Vielfalt im Äther
Die neue Frequenz für den unkommerziellen Rundfunk Berlins bietet Chancen und Anlass zur Kritik
Wo gibt es das schon, dass unter der Woche nachts um halb eins eine Diskussion zu Karl Marx' Begriffsinstrumentarium von elektronischer Musik unterbrochen wird, die gleicherorts mit aufwendig verkabeltem und manipuliertem Kinderspielzeug erzeugt wird? In einem Proberaum? In einer Studenten-WG? Vielleicht. Wenn das ganze aber öffentlichen Charakter haben soll, muss die Antwort lauten: Im unkommerziellen Rundfunk Berlins, wo sich die kreativen Geister der Stadt austoben können.
Bis vor kurzem gab es dafür nur den Offenen Kanal OKB – eine Art öffentlicher Dienstleistungseinrichtung, wo die Verwaltung die Sendeplätze vergibt – und die Möglichkeit, temporär auf einer freien Frequenz Veranstaltungsradio zu machen. Der OKB heißt mittlerweile Alex, und seit Pfingsten teilt er sich eine neue Frequenz mit größeren Gruppen, die ein gesondertes Antragsverfahren durchlaufen und Radioerfahrung vorweisen mussten.
Der neue Sender heißt schlicht nach der Frequenz: 88vier. Im Südwesten der Stadt und in Potsdam kann er auf 90,7 Mhz empfangen werden. Nach Auskunft von Steffen Meyer von Alex ist aber auf Grund von Standort und Stärke der Sendeantennen nur für ca. 900 000 Menschen die so genannte Vollversorgung, also ein relativ guter Empfang, gesichert.
Wer die 88vier empfängt, kann sich auf eine relativ bunte Mischung freuen. So liefert der Internetsender Multicult 2.0., eine Eigeninitiative von Angestellten und Fans der Ende 2008 abgeschalteten RBB-Welle Radio Multikulti, täglich mindestens vier Stunden Frühstücksradio (das bisher allerdings auf Grund mangelnder personeller Ressourcen nur aus pausenloser Musik besteht) und werktags eine weitere Stunde ab 18 Uhr. Vorwiegend der Berliner Musikkultur widmen sich die Gruppen BLN.Fm, TwenFm und Klubradio unlimited, die abends und nachts senden. Eine werktägliche »Kiez-Infothek« von 11 bis 12 Uhr liefert der Verein MedienKonkret. Ebenfalls eine Stunde täglich wird dem Internetsender Ohrfunk, dem Medienprojekt von und für Blinde und Sehbehinderte, zugestanden. Und dann gibt es da noch zwei Abende und Nächte pro Woche Pi-Radio, das Sammelbecken verschiedenster Freier Radio-Gruppen – jener Szene also, die sich seit vielen Jahren für ein wirklich freies, nämlich selbstverwaltetes Radio einsetzt.
Bei den Leuten von Pi-Radio wird das 88vier-Konzept abgelehnt – sie sehen den als neues Format angekündigten Sender als erweiterten OKB an, lässt etwa Paul Motikat von der Gruppe Radiopiloten wissen. Der Radioaktivist Johannes Wilms beschwert sich darüber, dass Alex, und somit auch 88vier, kommerzielle Sender nachahme. Eine Identifikation ihres Lagers damit, gar eine gelegentliche Kooperation mit den an anderen Tagen sendenden Gruppen, wie sie von der Medienanstalt Berlin-Brandenburg gewünscht ist, halten sie für wenig wahrscheinlich.
Wenigstens intern hat Pi-Radio letzte Woche vorgemacht, wie das Zusammenspiel verschiedener Radiogruppen aussehen kann: Ein Themenabend »Verwertung« wurde angesetzt, bei dem mehrere Gruppen und Einzelpersonen nicht nur etwa Diskussionen und Beiträge zur Wiederverwertung von Müll, Fäkalien und Musik sendeten, sondern wo auch zu später Stunde besagte Marx-Diskussion stattfand und eine französische Band auf wiederverwertetem Spielzeug Musik machte.
Für Unmut bei den Freien Gruppen – und eine Illustrierung des Unterschieds zwischen Freiem Radio und Offenem Kanal – sorgt das 88vier-Konzept aber vor allem dadurch, dass die sehr erfahrenen Radio-Enthusiasten keine Kontrolle über die Sendetechnik haben. Es kam wiederholt zu Sendeausfällen, weil die bei Alex untergebrachte Technik nicht richtig funktionierte, dort aber spät abends kein Mensch mehr war, um das zu beheben.
Wenigstens die Einrichtung eines Livestreams, also der Möglichkeit, das Radio auch im Internet zu hören, hat nun endlich geklappt. Ab Mitte der Woche soll er unter www.88vier.de abrufbar sein.
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