Suizid vor Zwangsräumung?
Der Tod eines 55-Jährigen Mann aus Wedding wirft ein Schlaglicht auf die Armutsspirale
Die Hintergründe des Todes sind weiter unbekannt. Nachdem es um Amtshilfe gebeten worden war, hatte am Dienstagmittag ein Sondereinsatzkommando (SEK) der Polizei eine Wohnung in Berlin-Wedding gestürmt und den 55-jährigen Mieter tot in seinem Schlafzimmer aufgefunden. Eine Gerichtsvollzieherin, die eine Zwangsräumung vornehmen wollte, hatte die Polizei gerufen, nachdem ein von ihr beauftragter Schlüsseldienstmitarbeiter eine gespannte Armbrust hinter der Tür gesehen hatte, die sich im weiteren Verlauf jedoch als ungeladen herausstellte.
Ob der Mieter Suizid begangen hat, wie er einem Medienbericht zufolge gegenüber seiner Hausverwaltung im Falle einer Zwangsräumung angedroht haben soll, ist jetzt Gegenstand der polizeilichen Ermittlungen. »Es war auf jeden Fall kein Fremdverschulden erkennbar«, erklärte eine Polizeisprecherin gegenüber ND. Dass die Polizei zu solchen Wohnungsräumungen hinzugezogen wird, ist kein Einzelfall und komme vor, wie die Sprecherin bestätigt. Wenn gefährliche Waffen im Spiel sind, sei es üblich, das SEK hinzuzuziehen.
Wer sich weitergehende Informationen und Erfahrungen zu Räumungsaktionen beim Berliner Verein der Obergerichtsvollzieher erhofft, ist allerdings bei dessen Landesvorsitzendem Frank Schneider an der falschen Adresse. Bei ihm führt schon allein die Erwähnung des Stichworts »Zwangsräumungen« dazu, dass er den Hörer auflegt. Dass fast 300 Gerichtsvollzieher in Berlin tätig sind, zeigt aber, dass es auch ein entsprechendes Betätigungsfeld gibt.
Der Fall des 55-Jährigen aus dem Wedding wirft nun erneut ein Schlaglicht auf die Armut in der Stadt. Dabei dürfte es Zwangsräumungen gar nicht geben. Schließlich ist das Jobcenter zur Übernahme von angemessenen Kosten der Unterkunft verpflichtet. Doch was »angemessen« ist, darüber streiten die Juristen. »Es gibt bisher für das Land Berlin keine Entscheidung des Bundessozialgerichts bezüglich der Angemessenheitsgrenzen der Kosten der Unterkunft«, erklärt Andreas Staak. Zu dem Fachanwalt für Sozialrecht kommen viele Hilfebedürftige, die ein Schreiben des Jobcenters erhalten haben, in dem sie »zur Senkung der Kosten der Unterkunft« aufgefordert werden. Wenn dieser Forderung nach sechs Monaten nicht nachgekommen wird, zahlt das Jobcenter in der Regel zur Zeit 376 Euro pro Person, sagt Staak. Liegt die Miete aber darüber, müssen die ALG-II-Bezieher den Rest von ihrem Regelsatz bezahlen, was viele nicht können. Mietschulden laufen auf, die Vermieter erwirken dann nach drei Monaten zivilrechtlich eine Räumungsklage.
Dass viele Betroffene versuchen, die Differenz bei der Miete von ihrem niedrigen Regelsatz abzuzweigen, haben auch die Aktivisten der »Kampagne gegen Zwangsumzüge« beobachtet. Seit vier Jahren betreiben sie ein Notruftelefon. »Wer aus dem Arbeitsmarkt herausfällt, der will nicht auch noch seine Wohnung verlieren«, berichtet Karin Baumert, die das Sorgentelefon ehrenamtlich mitbetreut. In einer Umfrage unter Betroffenen hat die Kampagne 2009 herausgefunden, dass zehn Prozent der Befragten, um die Miete bezahlen zu können, regelmäßig am Ende des Monats hungern.
Selbst diejenigen, die bereit sind umzuziehen, brauchen dafür allerdings erst die Genehmigung des Jobcenters, was dieses selbst bei niedrigen Mieten nicht immer gewährt, wie Rechtsanwalt Staak sagt. Zudem ist Wohnraum innerhalb der Angemessenheitsgrenzen innerhalb des S-Bahn-Rings so gut wie kaum noch vorhanden.
»Die Leute ziehen in Hartz-IV-Zonen an den Stadtrand«, sagt Karin Baumert. Bei Migranten hat sie dagegen den Trend registriert, dass sie zurück in ihre Familien in deren begrenzten Wohnraum ziehen.
Eine solche Möglichkeit hat dem 55-jährigen Mann aus Wedding offenbar nicht offen gestanden. Aber auch das ist bis zum Abschluss der Ermittlungen reine Spekulation.
Das Notruftelefon der Kampagne gegen Zwangsumzüge ist aus dem Berliner Festnetz kostenfrei unter 0800 27 27 27 8 jeden Dienstag und Donnerstag zwischen 10 und 13 Uhr zu erreichen; Internet: www.gegen-zwangsumzuege.de
Das »nd« bleibt gefährdet
Mit deiner Hilfe hat sich das »nd« zukunftsfähig aufgestellt. Dafür sagen wir danke. Und trotzdem haben wir schlechte Nachrichten. In Zeiten wie diesen bleibt eine linke Zeitung wie unsere gefährdet. Auch wenn die wirtschaftliche Entwicklung nach oben zeigt, besteht eine niedrige, sechsstellige Lücke zum Jahresende. Dein Beitrag ermöglicht uns zu recherchieren, zu schreiben und zu publizieren. Zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!
Mit deiner Unterstützung können wir weiterhin:
→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.
Sei Teil der solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.