Fußball-WM (24)
Einwürfe, Fußnoten
DIE DEUTSCHE FLAGGE neben dem deutschen Geschirrtuch. Der Ausnahmezustand des patriotisch gestimmten Gefühlshaushaltes und der Alltagstrott im familiären Haushalt. Das Hohe und das Niedere, zusammen auf die Leine gespannt wie Sieg und Niederlage, Lust und Last, Freude und Frust. Die WM ist zu Ende, wir gehen wieder auf Tuch-Fühlung zum Märchenlosen.
Man sieht ja zum Beispiel nur, was man sehen will – aber wie immer man sich heute Abend anstrengen wird: Aus keiner Fernsehsendung wird Fußball. Nein, so rund könnte selbst der Bulle von Tölz nicht sein, dass aus einem Abend jetzt doch noch Fußball würde. Endgültige Spielpause! Das Sommerloch ist -zigmal größer als beide Fußballtore eines Spielfeldes. Das ist der blanke Sinninfarkt! In den Familien herrscht Langeweile wie auf dem Gut von Tschechows Onkel Wanja. Man wartet wieder auf Godot und weiß nicht, wer das ist und worauf man eigentlich wartet. Jetzt wandern die Begriffe aus der Fußballkunstwelt wieder hinüber ins Leben: Anpfiff, Abseits, böses Foul, Konter.
Diese plötzliche Not, sich leise unterhalten zu müssen. Überhaupt: zurückzufinden in Gespräche, die ohne den Wortschatz unserer hohen Sachkenntnis auskommen. Jetzt müssen sie die Räume eng machen! Früh stören! Das möchte man noch mal in Zeitlupe sehen! Da wird zu wenig zum Ball gegangen! Die Standarsituationen werden nicht genutzt! Jetzt müssen sie öffnen hinten! Warum geht da keiner mit! Mehr über die Seiten nach vorn! Der Ball muss laufen! Sie finden einfach nicht in ihr Spiel! Durch die Mitte geht nicht ... Das ist er, der Wortschatz. Ergänzt durch die Akteure selbst, die nach dem Spiel zu Interviews verurteilt werden – Interviews in einer Technik, die Joachim Löw nahezu perfekt beherrscht: Man sagt etwas, man sagt sogar sehr viel, aber eigentlich erreicht kein einziger Ton jene Wellenlänge, auf der man zitierbar wird. Das ist eine Kunst.
Während seiner letzten Disputation, es war noch weit vor dem Spiel gegen Uruguay, sagte Günter Netzer in der ARD den schönen Satz: »Irgendwie ist bei der deutschen Mannschaft der subjektive Faktor ausgebrochen.« Als hätte er Marxismus studiert. Der subjektive Faktor – der bekanntlich so gut ist, wie er gefahrvoll sein kann. Man kann ihn herauskitzeln, bis der Mensch zum Vorschein kommt, aber man kann sich nicht hundertprozentig auf diesen Faktor verlassen, denn wenn der Mensch erst mal aus dem Häuschen und ausgelassen subjektiv ist, dann will er nichts mehr hören von der Enge des Überbaus, wo er regelmäßig auf Vordermann gebracht werden soll. Im Fußball heißt es bei dieser Gelegenheit (da ist er wieder, der Wortschatz!): Mann, da muss er doch abgeben! Allein durch, das bringt doch nichts! (Schon Marx’ Lehre hatte ihre Probleme mit dem subjektiven Faktor, und auch Schweinsteiger sieht noch immer aus, als sei er immer gut für ein Disziplinproblem. Obwohl er vielleicht mehr auf Merkel als auf Marx steht.)
Die Flagge neben dem Geschirrtuch. Letzteres wird an kein Auto geklemmt und weht uns doch allen voran. Die Spieler kehren aus Südafrika zurück, es wird keinen Empfang auf der Fanmeile von Berlin geben, ein letztes schönes Detail merklicher Bescheidenheit. In den letzten öffentlichen Äußerungen der Spieler kam des öfteren der Begriff Heimat vor. Heimat ist dort, wo die Rechungen ankommen, schrieb Heiner Müller. Und, ergänzen wir jetzt ein wenig traurig und melancholisch, wo das Geschirrtuch weht.
Bis zum Beginn der Bundesliga: nur noch wenige Wochen!
Hans-Dieter Schütt
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