Der Hall und der Nachhall

  • Hans-Dieter Schütt
  • Lesedauer: 7 Min.

Es gibt eine wunderbare Möglichkeit gegen den Schmerz: das Spiel. Deshalb sind Samuel Becketts Theatergestalten, diese halbverrückten Lebensleider und Stummelexistenzen, stets Höhepunkte in der Laufbahn großer Darsteller. Kortner, Bollmann, Schröder, Held, Minetti, Schall, Wildgruber – Gert Voss. Sie alle haben Krapp gespielt.

Krapp. Er ist weltberühmt, wie nur Poesie Menschen berühmt, ja unsterblich machen kann. Der alte Krapp hört »Das letzte Band«, hört sich als jungen Krapp und erinnert sich einer Liebe im nächtlichen Schilf, ans lange verlorene (nie besessene?) Mädchen in einem Boot. Erinnerung? Eher ein unsicheres Tasten als die Bestätigung einer beglückenden Erfahrung, eher ein Dämmern als ein wahres Heraufscheinen von Erfülltsein, damals. Da weiß ein Greis nicht wirklich, was war, und Erinnerung wird ihm noch für ein letztes Band, für ein letztes Mal einzig zu dem, was Leben immer bleibt: etwas, das man sich täglich erfindet – um der existenziellen Nichtigkeit für Momente, die man dann irrigerweise Glück nennt, zu entwischen.

Die Vergangenheit Krapps ist auf Tonbändern gespeichert. Der 69-Jährige hört sich als 39-Jährigen, und er hört dabei, was der 39-Jährige über den noch jüngeren Krapp denkt. Suche nach dem Erinnerungsglück. Er findet dieses Erinnerungsglück nicht, nicht in jenen frühen Jahren mit ihrem »Glauben«, ihrem »Licht der Erkenntnis« und den fatalen geistigen Hoffnungen; nein, einen einzigen erfüllten Augenblick nur findet er, in den Augen eines Mädchens. Eine Einbildung?

Peter Handke hat nun einen Monolog geschrieben, der just jenes stumm bleibende Mädchen in Krapps verzweifelt grimmiger Selbstvergrabung zu Wort kommen lässt: »Bis daß der Tag euch scheidet«. Krapp und sie, zwei steinerne Grabfiguren bei Handke – sie löst sich aus der Skulpturenexistenz und spricht. Da wagt sich also ein Wesen ins Wort, dessen Schicksal es geworden war, nur immer in der tapsigen, grollenden Melancholie eines alten Mannes zu leben; nie eine Eigenexistenz gehabt; stets bloß herbeizitiert, nie wahrhaft herbeigebeten.

Aber wir müssen zunächst noch ein wenig bei Krapp bleiben, denn Handke nennt Becketts Drama »groß« und vermutet, nach ihm seien »nur noch unsere sekundären Stücke gekommen«, Literatur nur noch über die »Spuren der Verirrten« in irgendeinem, so oder so genannten Realismus. Wir seien doch allesamt bloß noch mit Echo beschäftigt, nicht mehr mit Ruf. »Du der Hall, ich der Nachhall«, so sagt es auch die Frau, die einst Krapps Liebe gewesen sein soll.

Gert Voss hatte – es war vor Jahren am Wiener Josephstadt-Theater – stärker noch als andere Krapp-Spieler dem besagten Hall die Heiligkeit genommen. Jetzt, im Nachhinein, wirkt seine Interpretation der Beckett-Gestalt geradezu wie ein Befehl, das Mädchen zum Leben zu erwecken und der Ungerechtigkeit von Krapps galliger Deutungshoheit über diese Liebe etwas entgegenzusetzen. Es musste unbedingt die Idee in die Welt kommen, jener jungen Frau die Gerechtigkeit des Erscheinens, der Widerrede zukommen zu lassen. Bei diesem Voss-Krapp – und genau so einen Menschen muss man beim Lesen Handkes stets mitdenken – saß der böse, schreiende, alte, tränenferne Blick unter abrasierten Brauen, und wenn der Einsame sein Tonband abhörte, dann schienen diese Augen besser hören zu können als die Ohren. Jedermann und das verwartete Leben.

Voss erschuf ein schalenloses Wesen, dessen schleppender, lähmungsgeweihter Körper dennoch aus Empfindungsmasse bestand. Diese zerstörte, lädierte Figur war ein Träumender, der ausgeträumt hatte, aber es gab noch Reste von kaltem, quälendem Geist. Die Leere, die Bodenlosigkeit, die manisch hervorbrechenden Wörter Krapps korrespondierten mit den Resten dieses Geistes, der sich in dem so besonderen Voss-Schädel mit den starrenden Augen aufhielt.

Das ist es, das bittere Los aller Alten, die nicht loslassen können vom Nachhang ihrer früheren Bedeutung. Die auf ihren Inseln sitzen und dort noch immer das Rauschen des Meeres – das um ihre Inseln doch nur eine Kurve macht – für aufmunternden Beifall halten. Sie werfen Flaschenpost ins Wasser, als wartete die Welt noch immer auf ihr Wort. Immer nur Flaschenpost, das macht grau und noch älter und noch böser.

Das ist die Liaison mit dem Tod, dem wir entgegendunkeln, inmitten der Zeit, die kommt, während wir gehen. Das einzige Mysterium: dass der Mensch weitermacht, obwohl alles dagegen spricht. Dies ist, trotz allem, das groß Bejahende an Beckett.

Handke treibt die Bejahung weiter. Er porträtiert Krapp über dieses Mädchen-Solo. Der wird entpuppt. Als einer, der in seiner Einsamkeit doch weiter, immer weiter – bemerkt werden wollte. Der nicht lebte, sondern nur immer Zeichen aussandte. Der nicht liebte, sondern Liebe – vorzeigte. Noch nachts »ein Weltchampions des taghellen Spiels«. Eine fortwährende Scheinwerferexistenz. Der gibt als Kunstfigur allen das Gefühl, vielleicht weise zu sein, er ist aber bloß ein Gefühlswaise.

Dies Mädchen, das aus seiner Gruft aufsteht, steht für den Dichterwunsch, dass die Menschen darüber reden, worüber sie nicht reden (wollen). Dass die Menschen das sehen, was sie nicht sehen (können). Dass sie Worte über das finden, vor dem sie Angst haben (müssen). Dass sie das tun, was sie nicht tun (dürfen). Aber vielleicht gern täten – wenn wir nur mutig genug wären, uns als offen hilflos und machtlos zu empfinden. Hilflos werden – ja, das ist vielleicht die ganz große Botschaft. Also, Krapp: den verbissenen Traum von der Rechthaberei und Ich-Haberei aufgeben! Fürsorglich sein!

Ich lese aus dem Monolog der Frau heraus, dass der Mensch sich von anderen Wesen nur dadurch unterscheidet, dass er das Wort »Liebe« nicht nur sagen kann, sondern leben könnte. Und wenn schon nur sagen, Krapp, dann eben: sagen!, nicht knirschen, zerbeißen.

»Du der Hall, ich der Nachhall«. So sagt die Frau am Schluss und nimmt sich gleichsam wieder zurück in den Anfang, der immer nur Krapp hieß. Aber sie hat ein einziges Mal gesprochen, wie nur tot geglaubter Stein innig reden kann, und ihre Rede geht fortan nicht mehr unter im Tonbandrauschen des Alten: Sie wird von nun an, von Handke an, selbstbewusst zur Geschichte des Beckettschen Krapp gehören. Handke hat also einen Text geschrieben über den Sinn aller Literatur: ein Weitererzählen zu stiften, ein fantasierendes Fort-Fahren in der ewigen Gleichheit der Dinge anzustoßen. Kein Werk, das gut ist, ist mit dem letzten Satz beendet. Alles Erfundene ist nur da, um sich in uns zu finden und weitererfunden zu werden – als die so ganz andere wichtige Wirklichkeit.

Einen Sommernachtstraumtext hat Handke geschrieben, in dem die Wahrheiten leben, die am Tag wieder das Verschwiegene, Verdrängte sein werden. Hier scheidet nicht der Tod, sondern der Tag, der aus sprechendem Stein wieder bloß Stein macht – der nur (Grab-)Stein ist, sprachlos. Wenn wir denn achtlos hinschauen. Und meistens schauen wir achtlos. Der Tag ist der Tod des Achtvollen, jeder Morgen ist die Geburtsstunde des Achtlosen: Nachts reden die Steine; und eine Nacht ist schön, wenn sie steinerweichend ist – die Jungfrauenskulptur reckte sich, redete. Der kommende Tag dauert dann wieder exakt so lang, dass es reicht, um aus Gesichtern Stein, Starre werden zu lassen. »Unter dem Schattendach einer Esche bleibe ich stehen, getroffen von einem Tag, der keine Lüge kennt.« Schreibt Dichter Hanns Cibulka.

Es werde hoffentlich, irgendwann, genau so ein Tag, einer, so ganz anders als die gewöhnlichen Tage – das denkt auch der Märchenerzähler Handke. Krapp sei ihr Untergang, sagt das Mädchen, »aber es gibt vielleicht Schlimmeres«, und sie spricht somit von der schönen Unsterblichkeit – nicht der Leiber, aber der Momente, in denen eine Illusion lag. Die Illusion, die Liebe hielte ihnen nicht Momente, sondern das ganze Leben hin, und Sie und Er, Krapp, hätten nur zugreifen müssen ...

Peter Handke: Bis daß der Tag euch scheidet. Ein Monolog. Suhrkamp Verlag. 52 S., 14,80 Euro.

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