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Warum denn ich?

Mitläufer-Studie:

  • Hans-Dieter Schütt
  • Lesedauer: 3 Min.

Eine Studie mehrerer europäischer Politik- und Meinungsforschungsinstitute hat auf ein Phänomen aufmerksam gemacht: Umfragen hätten ergeben, dass Menschen mehrheitlich das Mitläufertum anprangern, aber es ebenso mehrheitlich ablehnen, in irgend einer Form selber diesen »Mitläufern« zugerechnet zu werden. Exakter kann der Beleg für die Existenz des Typus nicht sein.

Der Mitläufer ist in heutiger Form logisches Produkt der arbeitsteiligen Industrie-Gesellschaft: Er möchte nur so viel wissen, dass er nicht in die Lage kommt, mehr wissen zu müssen. Das ist nicht mein Bier, sagt er, und schluckt seine Meinung – so nährt sich, was als gesunder Volkskörper ungute Assoziationen auslöst.

Nur zweimal riss man sich in Deutschland darum, den Mitläufern anzugehören. Vorübergehend, während der Entnazifizierung, wurden Vertreter dieses verbreiteten Menschenschlages eine offizielle, lebensrettende Kategorie. Einen historischen Augenblick lang ist damals klar geworden: Ohne sie läuft nichts, ist noch nie etwas gelaufen. Die Zugehörigkeit zu diesem Typus hat einen Vorteil: Man kann Verantwortung, Zuständigkeit, Schuld in höhere Dienstbefugnisse delegieren.

Der nächste Systemkollaps, der unaufhaltsame Zusammenbruch der DDR, erlaubte die nahezu gleiche Beobachtung: Der politische (Karriere-)Weg in höhere Posten der neuen Zeit war bei einigen Wohlbekannten mit Beteuerung gepflastert, man sei ja nur Mitläufer gewesen und dürfe daher um mildernde Umstände bitten, wenn es um die Frage gehe, was ein ummauertes System denn im Innern so stabil gehalten habe.

Seitdem – wie immer, wenn Umbrüche überstanden sind – ist es wieder äußerst schwierig, eines einzelnen Mitläufers habhaft zu werden. Sie pflegen, instinktkräftig

wie kein anderes Wesen, den Blick

fest vor der Erkenntnis zu verschließen, dass eigentlich sie die Verursacher aller kleinen und großen Verwerfungen sind, die im Namen einer Idee geschehen. Natürlich sind sie aber auch – und das muss man ihnen jetzt zugute halten – Sachwalter jener ausbalancierenden Trägheit, die eine Gesellschaft erst lebbar macht. Weil durch diese Trägheit Kräfte mit extremen Sehnsüchten in der Mitte ausgebremst werden.

Der Mitläufer wird dann gefährlich, wenn aus entschuldbarer Anpassung klebrige Anbiederung wird. Wenn einem in der wogenden Menge – in deren Wärme, und Kraft man das vermutet, was wahr und richtig ist – plötzlich keine Berührungsfurcht mehr hochkommt. Wenn Ankunft in der Verschiebe-Masse wie ein Geburtsmoment gefeiert wird. Der Mitläufer hat Angst vor sich selbst. Aber indem er diese verdrängt, legt er in sich selber immer wieder den Keim, aufs Neue steuerbar zu werden.

Ein Volk besinnt sich nie, das kann nur ein Einzelner. Ja: Wenn man sich von den Leuten unterscheiden will, muss man ein Charakter sein. So die Zumutung. Der Mitläufer aber reiht sich ein. Er hätte manchmal fast ein Argument auf der Zunge. Doch Zünglein an der Waage sein? Um nicht falsch verstanden zu werden – verstummt er. Wenn er aufgefordert wird, eine Katastrophe zu verhindern, fragt er: Warum gerade ich? Wenn sie ihn trifft, fragt er: Warum gerade mich?

Aber er wird sich auch vom garantierten nächsten Schreck erholen. Er wird Sieger der Geschichte bleiben. Denn in allen Lagern steht seinesgleichen. Und bildet das, was man – unbewusst präzise – die überwältigende Mehrheit nennt. Die schweigende Mehrheit. Die den Ton angibt. Die nie bei sich selbst ankommt, weil sie immer anderen nachläuft.

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