Archäologie des Protestes

Die Galerie NGBK setzt sich mit Alternativkultur im London der 70er Jahre auseinander

  • Tom Mustroph
  • Lesedauer: 4 Min.
Szene einer Schwulendemo im London der 70er Jahre
Szene einer Schwulendemo im London der 70er Jahre

»Goodbye London« nennt sich die aktuelle Ausstellung der Neuen Gesellschaft für Bildende Kunst (NGBK) in der Oranienstraße über die Alternativkultur der 70er Jahre in der Themsestadt. Sie geht zurück auf einen Abschiedsgruß, den das damalige RAF-Mitglied Astrid Proll aufgrund ihrer Verhaftung durch die Londoner Polizei am 15. September 1978 an jene Künstler und Aktivisten richten musste, die sie vier Jahre lang verborgen hatten. Proll, die nach ihrer Haftentlassung in der Bundesrepublik als Fotografin und Fotoredakteurin arbeitete, und der britische Aktivist Peter Cross sind Initiatoren der Ausstellung. Sie wollen gelebte – und mittlerweile etwas in Vergessenheit geratene – Protestkultur wieder in Erinnerung bringen. »Damals herrschte eine lang anhaltende Wirtschaftskrise, vergleichbar mit der heutigen. Die etablierten Künstler kümmerten sich nicht besonders darum. Aber eine Gruppe junger Leute im Alter von 20, 25 Jahren nutzte die Krise als Chance, um neue Protest- und Ausdrucksformen zu entwickeln«, meint Cross.

Im ersten Moment erzeugen die von einer Arbeitsgruppe für die Ausstellung zusammengetragenen Dokumente und Objekte freilich eine eher melancholische Grundstimmung. Der Fotograf Homer Sykes macht Aufnahmen von Streiks, bei denen die Arbeiter die Fabriktore verrammeln und die von den Arbeitgebern angeworbenen Streikbrecher noch als Streikbrecher bekämpfen – und sie nicht als in prekäre Existenzen gedrückte Almosenempfänger mit staatlich verordnetem Arbeitszwang mal bedauern und mal verachten. Angesichts der heutigen Public Viewing-Meilen wirkt die Collage des Künstlers Peter Kennard, auf der ein Fernsehapparat als Instrument der Verdummung erkannt und zertrümmert wird, geradezu rührend. Ambitionierter ist der Versuch des Berwick Street Film Collective, einen abendfüllenden Film über die Situation von Reinigungskräften zu drehen, um damit eine Kampagne zur gewerkschaftlichen Organisierung der Putzfrauen zu starten. Gewerkschaftliche Organisation tut hier auch heute noch Not. Unvermittelt ist man mittendrin in einem Kontinuum der sozialen Kämpfe von den 70er Jahren bis in unsere Zeit.

Bei der Betrachtung der Plakate des Film Poster Collective ist gar nicht mehr auseinanderzuhalten, an welchem Punkt der Zeitachse man sich jetzt befindet. Zur Solidarität mit dem kämpfenden iranischen Volk wird aufgerufen. US-Soldaten und britische Militärs werden zum Verlassen der Golfregion aufgefordert. Auch Afrika ist ein Thema; nicht als Schauplatz eines Brot & Spiele-Spektakels freilich, sondern als Arena der nationalen Befreiungsbewegungen. Wenn dann die Ohnmachtsgefühle einsetzen, weil ja so herzlich wenig erreicht worden ist, dann lohnt es sich jedoch, sich intensiver mit den Künstlern und Aktivisten auseinanderzusetzen, die für die Emanzipation der Frauen und gegen die Diskriminierung von Schwulen und Lesben gekämpft haben. Wenigstens hier hat sich etwas getan.

Daher nehmen die Fotos von diesen Auseinandersetzungen und die künstlerischen Werke, die sie zu reflektieren suchten, den Status von Trophäen ein. Margaret Harrison ist mit einer gewaltigen Collage auf einer Leinwand vertreten, in der sie Vergewaltigung in einen gesellschaftlichen Kontext stellt. Jo Spence zeigt Arbeiten, in der sie sich selbst ironisch als Objekt – etwa in der klassisch kindlichen Eisbärenfell-Foto-Pose – abbildet. Eine Vielzahl von Fotos über die legendären Rassen-Unruhen von Brixton führen den Zuschauer direkt in die heftigen 70er Jahre zurück.

Der Filmregisseur Derek Jarman demonstriert in dem intensiven Kurzfilm »Journey to Avesbury«, dass die 70er keinesfalls so schwarz-weiß waren, wie die übermittelten Fotografien es vermuten lassen. Das Gold und Rot seiner Fahrt durch die Landschaft brennt sich geradezu in die Netzhaut ein. Jarman ist – neben dem exzellenten Reportagefotografen Homer Sykes – der einzige der hier vertretenen Künstler, der eine internationale Karriere eingeschlagen hat. Die anderen trennten politische und künstlerische Aktion noch nicht so stark, als dass sie mit dem Kunstmarkt ohne weiteres kompatibel gewesen wären.

Jule Reuter, Mitglied der Arbeitsgruppe, die diese Ausstellung organisiert hat, ist jedoch überzeugt, dass ohne diese radikalen Künstler die provozierende Welle der Brit Art, deren Vorreiter Damien Hirst ist, gar nicht erst Fahrt aufgenommen hätte. Die klaustrophobischen Performances von Stuart Brisley, von denen einzelne Videodokumente existieren, die Teil der Ausstellung sind, bestätigen diese These. »Goodbye London« ist eine politisch-ästhetische Reise in die Ablagerungen der Protestkultur. Mitorganisator Peter Cross, der auch heute noch durchaus auf die politische und performative Aktion setzt, hofft mit dieser Besinnung auf die Anfänge, neue Wellenbewegungen auszulösen. Aktuelle Gegenstücke sieht er vor allem in den G-8-Protesten. Die Ausstellung wird von Filmscreenings und Diskussionen begleitet.

Bis 15.8., täglich 12-19 Uhr, do.-sa. bis 20 Uhr, NGBK, Oranienstr. 25, Eintritt frei, Internet: www.ngbk.de

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