Grönland ein Sommermärchen
Zum Abkühlen in die Arktis – unterwegs zwischen Eisbergen und Eskimos
»Was macht man denn da?« Wer am Flughafen in Kopenhagen Urlauber trifft, die nach Mallorca, ans Rote Meer oder nach Phuket wollen, muss mit dieser Frage rechnen. Denn laut Drei-Letter-Code fliegen wir nach JAV, was für Jakobshavn steht, und das liegt an der grönländischen Westküste, deutlich nördlich des Polarkreises. Was macht man bloß mitten in der Arktis?
Antworten wie »am Strand liegen«, »Eisbären jagen« oder auch »um Eisberge schwimmen« hinterlassen zwar verdutzte Gesichter, sind aber völliger Blödsinn. Denn es gibt keine Strände, Eisbären sieht man dort im Sommer auch nicht, und das Nordmeer hat mit vier Grad nicht wirklich eine Wohlfühltemperatur.
Im Sommer und im Herbst ist die größte Insel der Welt vor allem ein Wandermärchen. Man schwebt über weiche Moosteppiche, erläuft sich Urlandschaften, genießt das tägliche Hundekonzert und wird – dank der oft scheinenden Polarsonne – ordentlich braun .
Vierbeinige Saisonarbeiter
Zwölf Uhr mittags. Polarzeit. High noon in Ilulissat. Das 5000-Einwohner-Städtchen döst in der noch wärmenden Spätsommersonne. Das Glockenläuten von der kleinen Holzkirche klingt vertraut. Dreimal, viermal. Bimm-bamm, bimm-bamm. Doch dann, urplötzlich, sind die Glocken kaum mehr zu hören. Stattdessen setzt wie auf Kommando ein kollektives Gejaule, Gebelle, Geheule, Gezetere an: 9000 grönländische Schlittenhunde (nur Ignoranten sprechen von Huskies – die heulen in Sibirien oder Alaska) nehmen sich jeden Mittag von neuem vor, den Kirchenglocken keine Chance zu lassen. Die Hunde sind in dieser Polarregion keine Streichel- oder Kuscheltiere. Sie arbeiten, halbwild wie sie schon immer gelebt haben, als »Saisonkräfte«: Im Winter ziehen sie die bunten Holzschlitten der Eisfischer, Jäger und Touristen, während sie im Sommer faulenzen dürfen, bei dann allerdings auch nur halber Fressration.
»Die Hunde sind für die Menschen hier noch immer überlebenswichtig, daran ändern auch die modernen Skidoos nichts«, sagt Lars Rasmussen, Enkel des berühmten Polar- und Eskimoforschers Knud Rasmussen, der in Ilulissat, das dänische Siedler Jakobshavn nannten, geboren wurde. Um 1900, zu Zeiten des großen Forschers, der auch, erzählt Enkel Lars, ein echter Lebemann gewesen sei, damals also war »Rasmussens Insel« für jeden normalen Europäer wie ein Stück außerirdischer Fremde: unheimlich, unnahbar und vorverurteilt.
Damals segelte ein Großschiff noch rund 100 Tage, um von den Häfen Europas in die Arktis zu gelangen. Heute fliegt der Großraumjet vom nordischen Drehkreuz in Kopenhagen in gut vier Stunden hinauf zum kalten Nachbarn des Nordpols.
Mit uns an Bord fiebert eine bunte Menschenmischung dem immer noch so unbekannten Ziel entgegen: Echte und unechte Eisabenteurer in dicken Wollhemden. Naturfreaks mit verklärtem Blick. Eine lebhafte dänische Schulklasse, die sich auf eine Woche sturmfrei freut. Inuit (»Menschen«), wie sich die Eskimos selber nennen, auf dem Heimflug vom Besuch auf dem Festland. Und eine Handvoll neugieriger Urlauber. Der Tourismus ist auf der größten Insel der Welt noch ein zartes Pflänzchen.
Eisberg mit Postamt
Wir sind in der Disko-Bucht, tief im Westen des Eilands und weit nördlich des Polarkreises. Würde man von hier aus geradeaus durch die Labrador-See schwimmen, würde man, käme man überhaupt an, als Eispaket in Kanada an die Ostküste gespült. Wir lassen die Schwimmübung bleiben und bummeln lieber durch Ilulissat. Das beschauliche Gemeinwesen ist für dortige Verhältnisse eine Großstadt mit allen Annehmlichkeiten wie Geschäften, Hotels, Disco, Fußballplatz, Postamt, mehreren Banken sowie Imbiss- und Videobude.
Ilulissat ist grönländisch und heißt soviel wie Eisberg. Was wörtlich zu nehmen ist, denn die wuchtigen »Wolkenkratzer« dort draußen im Eisfjord sind wirklich zum Greifen nah. Wir fahren hin – mit Dieter aus Berlin und seinem Boot, der »MS Smilla« (benannt natürlich nach Buch und Film, der zum Teil hier gedreht wurde).
Vor uns bricht ein Stück Eiswand krachend ins Wasser. Das kleine Boot schaukelt. Festhalten! Aber: Immer noch türmt sich an die 100 Meter hoch der Eisklotz, in dem Süßwasser von Tausenden von Jahren gefroren sein kann, vor uns auf. Dieter Zillmann, der seit 30 Jahren mit Partnerin und Honorarkonsulin Elke Meissner auf Grönland heimisch geworden ist, hält respektvoll Abstand, obwohl er extra für uns einige Meter näher als normal heranfährt. Denn so fantastisch und blau-bizarr-glitzernd sich der Eisberg auch zeigt: Bricht das Ding auseinander oder dreht sich im Wasser um, wird es in Sekunden zur tödlichen Gefahr für den, der nicht rechtzeitig das Weite sucht.
Im Eisfjord von Ilulissat jedenfalls schiebt der »schnellste Gletscher der Welt« täglich seinen frostigen Nachschub um etwa 30 Meter ins Wasser hinaus. Abbrechende Eisberge treiben, immer südwärts, gelegentlich sogar bis nach New York oder Madeira. Auch der »Titanic« wurde bekanntlich so ein Arktismonster zum Verhängnis, der sehr wohl hier an der Eiskante abgebrochen sein kann.
Der Wind fegt, die Kälte aber beißt wegen der trockenen Luft weniger als erwartet. Am Rande der kleinen Stadt, dort, wo einige bunt angemalte »Mehrgeschosser« stehen, wandern wir los – Richtung Nord-Ost, Ziel Rodebay. Eine Holzhütte ohne Strom, mit Gaskocher und Matratzenlager in der alten Walfängersiedlung, fünf Laufstunden entfernt, soll unsere Ferienadresse für die nächsten Tage sein. 20 Minuten später hat uns das Fjell, die moos- und flechtenbewachsene Urlandschaft, die so etwas wie die natürliche Speisekammer Grönlands darstellt, komplett eingenommen. Mal stehst du knöcheltief in einem blühenden Farbenmeer aus Pflanzen und Moosen, dann wieder kletterst du über die nächste Steinwand und pflückst zwischendurch Vitaminstöße in Form von schwarzen Krähenbeeren.
Echte Thüringer Klöße
»Morgen ist Sonntag, morgen kommt unser Festessen auf den Tisch – Walroulade mit Klößen und Rotkraut.« Die Frau, die uns mit köstlichem Speiseplan begrüßt, heißt Uta und ist gelernte Köchin aus Berga in Thüringen. Mit ihrem Mann Ingo hat sie sich im 40-Einwohner-Flecken Oqaatsut (Rodebay) unter lauter Einheimischen ein buntes Grönland-Holzhaus als Restaurant und Kneipe »H 8« gemütlich ausgebaut und vermietet nebenbei auch noch Zimmer und Hütten. »Wir haben uns vor zehn Jahren in die Natur Grönlands verliebt und sind seitdem hier, das geht gut«, erzählt Uta, die wie ihr Mann dänisch und ein paar Brocken der Inuitsprache spricht. Sie lässt uns von ihrer grönländisch-thüringischen Küche kosten. Auf die Teller kommt Robben-Geschnetzeltes oder ein Gulasch vom Moschusochsen. Auch fettigen schwarzen Heilbutt oder anderes Meeresgetier gibt's: Gegessen wird, was auf den Tisch und vor allem aus dem Atlantik kommt.
Nicht der Wal, sondern die Robbe bildet seit jeher die Nahrungs- und Existenzgrundlage der Menschen auf Kalaallit Nunaat, wie Grönland in der Eskimosprache heißt und was übersetzt so viel bedeutet wie »Land der Menschen, die sich der Natur unterwerfen«. Der Seehund wird dabei komplett mit Haut und Haaren ausgeschlachtet – inklusive der noch warmen Leber, die für jeden Eskimo roh eine Delikatesse ist. Übrigens: Das Wort »Eskimo« bedeutet »Rohfleischesser«.
Wir probieren Suasa, eine Art Eintopf mit Robbenfleisch, Zwiebeln und Reis, wir probieren auch Mattak, den fettigen Walspeck, den Lars, der Dorfbürgermeister, knabbert wie unsereins Salzstangen. Für die nächste Tageswanderung nehmen wir dann aber doch lieber 'ne Bifi mit. Ziel ist das Inlandeis, jener Eispanzer, der an der dicksten Stelle unglaubliche drei Kilometer dick ist. Mit Willi aus Mannheim, einem weiteren Deutsch-Grönländer, geht's ans sandige Ende eines langen Fjords, danach gut drei Stunden weiter über Stock und Stein, an Riesenfindlingen, einer Moränenhalde, einem mächtigen Schmelzwasserdelta vorbei – bevor wir das Eis erreichen. Ruhe, Durchatmen, Prost: Der Scotch mit jahrtausendealtem Eis ist Lohn für die Fußblasen (unbedingt knöchelhohe Wanderschuhe mitnehmen!).
»Das ist ein richtig schönes Grönlanderlebnis«, schwärmt Uta, die zupackende Thüringerin, die den Überlebenskampf der Natur in diesen arktischen Breiten bewundert. Wenn man sie fragt: »Was macht man denn hier?«, schüttelt sie nur den Kopf und sagt: »Arbeiten, Geld verdienen und in der Freizeit Land, Natur und Leute genießen.« Und wir? Wir genießen unser Hüttenleben und Lesen bei Kerzenlicht. Wir fahren mit Ingos Jolle aufs Meer und sammeln in roten Plastikkörben kleine Eisbergbrocken, lassen sie tauen und haben bestes Trink-, auch Waschwasser. Und im kleinen Supermarkt am Dorfrand gibt’s sogar Spaghetti und Tomatensoße für den Notfall, wenn man mal mit der Langleine keinen Fisch gefangen hat, was hier aber eigentlich nie vorkommt.
Was macht man hier? Das macht man hier!
Infos zu Grönland: www.visitgreenland.de
Pauschalangebote u.a. bei Nordwind Reisen (www.NordwindReisen.com) und bei Wikinger Reisen (www.wikinger-reisen.de)
Geografie: Grönland ist als größte Insel der Welt fast so riesig wie der gesamte europäische Kontinent. 85 Prozent der Landmasse im Nordatlantik sind eisbedeckt (Inlandeis). Von Nord nach Süd erstreckt sich das Eis – es wird bis zu drei Kilometer dick – über rund 2500 km, von Ost nach West sind's 1000 km. Das grönländische Eis speichert etwa zehn Prozent der Frischwasserreserven der Welt.
Mehr Infos auf www.dasnd.de/genossenschaft
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