Der Entertainment-Pionier
Das Schwule Museum erinnert an »Erik Charell und die schwule Operette«
Die Materiallage war schwierig, erzählt Kurator Kevin Clarke. Als Erik Charell im Alter von 80 Jahren 1974 in München starb, erbte sein viel jüngerer langjähriger Lebenskamerad den Nachlass. Inzwischen verwaltet den eine Erbengemeinschaft und hält ihn strikt unter Verschluss. Leihgeber, private wie institutionelle, sicherten die Ausstellung über ein eminent wichtiges Kapitel der Berliner Revuehistorie ab. Die weltweit erste Exposition hierzu legt als »Glitter and be Gay. Erik Charell und die schwule Operette« gleich auch die Koordinaten fest. Wieviel Glanz Charell dem Genre gab, wissen heute nur noch Eingeweihte; die Nachwirkung ist indes allenthalben spürbar. In den zwei dicht gestalteten Räumen des Schwulen Museums wird beides beleuchtet, Geschichte und Gegenwart. Das macht Clarkes Konzept der Ehrenrettung Charells so überzeugend. Der erste Raum widmet sich Charells Berliner Ära. Die begann für Erich Karl Löwenberg aus Breslau als Tänzer in Pantomimen unter dem Namen Charell. Oscar Bie schmeichelte ihm in einer Kritik als »neuem Nijinsky«, auch international feierte das Ballett Charell Erfolge. Max Reinhardt bot ihm 1924 die Leitung des Großen Schauspielhauses an, zu dem sich über den Schumann-Zirkus eine frühere Markthalle gemausert hatte.
Mit den maßstabsetzenden Revuen »An Alle«, »Für Dich« und »Von Mund zu Mund« katapultierte sich Charell in die Phalanx der Berliner Unterhaltung. Inspiriert hatten ihn dazu die Ziegfeld Follies, die er 1923 in New York erlebte. Stets präsentierte er mit Gespür Stars: die Tiller-Girls, Wilhelm Bendow, Claire Waldoff und auf deren Vermittlung die junge Marlene Dietrich. Auch seinen Liebhaber, den farbigen Tänzer Louis Douglas, zuvor bei Josephine Baker, setzte er ein. Von den Jahresrevuen ging Charell zu Operetten über und schuf Meisterinszenierungen. Von »Der Mikado« 1927 als USA-Import über »Madame Pompadour«, »Die lustige Witwe«, »Casanova«, »Die drei Musketiere« reichte das Spektrum bis zum größten Erfolg: »Im weißen Rössl« 1930, mit im Stil jenes Hotels umdekorierter Fassade des Schauspielhauses. Fritzi Massary, La Jana, Camilla Spira, Max Hansen, Paul Hörbiger, die Comedian Harmonists standen in jenen Operetten auf der Bühne, Chaplin kam als Zuschauer. Trat das »Weiße Rössl« seinen Siegeszug um die Welt an, mit Neuinszenierungen auch von Erik Charell selbst, gelang ihm mit dem Film »Der Kongress tanzt« 1931 ein vielbewunderter Coup im Musikfilm. Lilian Harvey, Willi Fritsch, Conrad Veidt, Lil Dagover und Hörbiger hießen die Stars. Zwei Jahre später beendete die Ufa unrühmlich den Vertrag mit dem Juden Charell.
Wechselvoll erging es ihm in der New Yorker Emigration. Dem Flop mit »Caravan« folgten das »Weiße Rössl« als »The White Horse Inn«, 1939 ebenfalls am Broadway das Musical »Swingin’ the Dream« nach Shakespeares »Sommernachtstraum« mit, mutig in dieser Zeit, rein »schwarzer« Besetzung, etwa dem jungen Louis Armstrong. 1936 nahm Charell die US-Staatsbürgerschaft an. Als er sich nach dem Krieg in München ansiedelte, gelang ihm 1950 mit der musikalischen Komödie »Feuerwerk« zu Musik von Paul Burkhard und um den Widerstreit zwischen Spießern und Zirkus endlich wieder ein Wurf. Als Produzent zeichnete er für die Verfilmungen »Das weiße Rössl« mit Johannes Heesters und 1954 »Feuerwerk« mit Lilli Palmer, Karl Schönböck, Romy Schneider verantwortlich. Im Alter sammelte Charell Kunst, etwa von Toulouse-Lautrec, erhielt 1969 den Deutschen Filmpreis für sein Lebenswerk. An seinem Grab spielte eine Blaskapelle den Triumphmarsch aus »Aida«. Unkonventionell wie im Leben ging er ins Kunstnirwana ein.
Bis 27.9., Schwules Museum, Mehringdamm 61, Kreuzberg, Telefon 69 59 90 50, Infos unter www.schwulesmuseum.de
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