Streitfrage: Sollte die aktive Sterbehilfe gesetzlich erlaubt werden?

  • Rosemarie Will und Hermann Barth
  • Lesedauer: 9 Min.

Willkürliche Grenzen der Gesetzgebung

Von Prof. Dr. Rosemarie Will

Dr. Hermann Barth
Dr. Hermann Barth

Der Tod gehört zum Leben. Das gilt nicht nur für jeden Einzelnen, sondern auch für unsere Gesellschaft. Auch sie muss immer wieder prüfen, wie sie mit den Sterbenden umgeht. Gestorben wird nicht im rechtsfreien Raum. Gesetze können menschliche Zuwendung weder verordnen noch sie ersetzen. Aber jeder, der sterbenden Angehörigen oder Freunden helfen will, sollte vorab wissen (können), wie weit seine Hilfe gehen darf und an welche Regeln er sich zu halten hat. In einer demokratischen Gesellschaft sind das vor allem die Selbstbestimmung des Sterbenden und dessen Würde. Das Recht auf eine angemessene Schmerzbehandlung nach umfassender Betreuung und der Freiheit zur Selbstbestimmung im Sterben haben ihren jeweils eigenen Sinn. Sie sind nicht gegeneinander aufrechenbar, etwa in der Art, dass wer mehr Hospize und mehr Schmerzbehandlung erhält, weniger Selbstbestimmung brauche.

Wie weit sterbende Menschen ihr Lebensende selbstbestimmt gestalten können, diese Frage ist auch ein bürgerrechtliches Anliegen. Die Humanistische Union hat 1978 als erste deutsche Bürgerrechtsorganisation eine Muster-Patientenverfügung vorgestellt. Seitdem fordern wir deren Anerkennung. Selbstbestimmung im Sterben heißt für uns aber auch: Es gibt keine Pflicht zum Leben. Der Wunsch, sein eigenes Leben beenden zu wollen, ist durchaus legitim, auch wenn dabei die Hilfe Dritter nötig ist.

Seit 1984 fordern wir die Legalisierung aktiver Sterbehilfe. Während die Patientenverfügungen mit dem neuen Betreuungsrecht im vergangenen Jahr erstmals gesetzlich anerkannt wurden, steht eine strafrechtliche Klärung der Sterbehilfe noch aus. Das entwertet aber die Patientenverfügungen, denn es darf nicht im Voraus verfügt werden, was strafrechtlich verboten wäre. Derzeit heißt das: Die aktive Sterbehilfe bleibt tabu (Paragraf 216 Strafgesetzbuch). Erlaubt und straffrei sind dagegen: die passive und die indirekte Sterbehilfe, der freiverantwortliche Selbstmord, die Begleitung beim assistierten Selbstmord (jedoch nicht durch den behandelnden Arzt), Verfügungen zur Organspende nach dem Lebensende.

All das findet sich aber nicht im Strafgesetzbuch, sondern verstreut in zahllosen Urteilen der höchsten deutschen Gerichte. Es waren die Gerichte, die aus dem Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit (Artikel 2, Absatz 2 Grundgesetz) die Autonomie des Patienten gegenüber dem Arzt folgerten. Mittlerweile gehört es zur ständigen Rechtsprechung, dass gegen den Willen des Patienten kein Eingriff vorgenommen und keine begonnene medizinische Maßnahme fortgesetzt werden darf. Der Behandlungsabbruch (»passive Sterbehilfe«) ist jederzeit möglich. Gleiches gilt für die indirekte Sterbehilfe. Auch hier entschieden die Gerichte, dass der Wunsch des Patienten nach einem schmerzfreien Leben ein höherwertiges Rechtsgut sei als die Aussicht, unter schwersten Schmerzen noch kurze Zeit länger zu leben. Deshalb ist eine vom Arzt angeordnete schmerzlindernde Medikation bei einem sterbenden Patienten auch dann zulässig, wenn sie als unbeabsichtigte, aber unvermeidbare Nebenfolge den Todeseintritt beschleunigt (»indirekte Sterbehilfe«).

So wichtig und fortschrittlich die meisten höchstrichterlichen Urteile zu Fragen des Lebensendes sind – die Klarheit einer gesetzlichen Lösung bieten sie nicht. Ärzte, Pfleger und Angehörige, ja selbst Vormundschaftsrichter entscheiden bei der Frage »Zulässig oder nicht?« häufig falsch. Immer wieder wird aus Angst davor, sich selbst strafbar zu machen, der Patientenwille missachtet und die Behandlung gegen den erklärten Wunsch des Betroffenen fortgesetzt. So musste der Bundesgerichtshof (BGH) am 25. Juni erneut entscheiden, ob die Beendigung der künstlichen Ernährung zulässig sei. Der BGH bestätigte die bisherige Rechtsprechung und beendete einen jahrelangen Rechtsstreit. Allein schon um den Beteiligten solche nervenaufreibenden Verfahren zu ersparen, sollte der Gesetzgeber die Grenzen zwischen aktiver, passiver und indirekter Sterbehilfe schleunigst klären.

Diese Grenzen sind praktisch wie juristisch schmal, wenn nicht gar willkürlich. Wie will man beispielsweise begründen, dass es gerecht sei, den assistierten Selbstmord straffrei zu stellen, die aktive Sterbehilfe aber zu verbieten. Im Klartext: Jeder gesunde Mensch kann sich bei der Selbsttötung helfen lassen, hilflosen Menschen wird diese Unterstützung jedoch verwehrt. Solche Wertungswidersprüche müssen aufgelöst werden, zumal die indirekte Sterbehilfe in der Praxis die häufigste Form der Sterbehilfe ist. Da hilft auch nicht die Berufung auf eine staatliche Pflicht zum Lebensschutz, die als Begründung für die versagte Hilfe herangezogen wird. Weder ist diese staatliche Lebensschutzpflicht absolut noch rechtfertigt sie einen Schutz des Menschen vor sich selbst. Das Recht auf Leben ist ein subjektives Freiheitsrecht und es verbietet geradezu die Annahme einer Rechtspflicht zum Leben. Das Grundgesetz steht einer Legalisierung der aktiven Sterbehilfe in Deutschland deshalb nicht entgegen.

Ebenso wenig sprechen die euphemistisch als »Euthanasie« benannten Verbrechen des Dritten Reiches gegen eine Legalisierung aktiver Sterbehilfe. Jene »Euthanasie« war staatlich angeordneter Mord, ohne jegliche Freiheit oder Selbstbestimmung der Betroffenen. Solche Verbrechen lassen sich nicht verhindern, indem man andere über den Sterbenden entscheiden lässt.

Prof. Dr. Rosemarie Will, Jahrgang 1949, ist Vorsitzende der Humanistischen Union (HU) und Professorin an der Juristischen Fakultät der Humboldt-Universität in Berlin. In der DDR war sie unter anderem an der Akademie der Wissenschaften im Institut für Staats- und Rechtstheorie tätig. Von 1996 bis 2006 arbeitete Will am Verfassungsgericht des Landes Brandenburg.

Durch Sprache in die Irre geführt

Von Hermann Barth

Meine Antwort heißt: nein. Die sogenannte aktive Sterbehilfe sollte auf keinen Fall gesetzlich erlaubt werden. Die Tötung eines Menschen – und sei es auf sein Verlangen oder unter Beschränkung auf die Hilfe zur Selbsttötung – muss vielmehr ein Tabu bleiben.

Folgenschwere Umwertungen beginnen meist mit scheinbar harmlosen sprachlichen Entscheidungen. So verhält es sich auch mit der weit verbreiteten sprachlichen Konvention, Tötung auf Verlangen und Beihilfe zur Selbsttötung unter dem Begriff der »aktiven Sterbehilfe« zusammenzufassen. Das harte Wort »töten« wird gemieden. Die »rote Linie«, die das Tötungsverbot markiert, ist verblasst. Die kategorische Schärfe des Gebots »Du sollst nicht töten« geht nicht zuletzt deshalb verloren, weil Tötung auf Verlangen und Beihilfe zur Selbsttötung als »Hilfe« deklariert werden. Der Nationale Ethikrat (NER) hat 2006 in seiner Stellungnahme »Selbstbestimmung und Fürsorge am Lebensende« mit Recht auf diesen Aspekt hingewiesen: »Das Wort ›Hilfe‹ ist positiv besetzt; es signalisiert etwas, was legitim und begrüßenswert ist. ›Hilfe‹ kann man sich in jeder Phase seines Sterbens eigentlich nur wünschen.« Diese positive Färbung werde bei der Rede von »aktiver Sterbehilfe« jedoch problematisch. So zu formulieren könne nur »als unangemessen und irreführend, ja geradezu als beschönigend und den wahren Tatbestand verschleiernd empfunden werden«. Konsequenterweise meidet der NER in seinen Vorschlägen zur Terminologie den Begriff der »Sterbehilfe« ganz und gar und unterscheidet streng zwischen »Tötung auf Verlangen« und »Beihilfe zur Selbsttötung« einerseits und »Sterbebegleitung« andererseits.

Der Philosoph Hans Jonas hat für die bioethische Terminologie die religionswissenschaftliche Kategorie des »Tabus« wiedergewonnen: »Unsere so völlig enttabuisierte Welt muss angesichts ihrer neuen Machtarten freiwillig neue Tabus aufrichten. Wir müssen wissen, dass wir uns weit vorgewagt haben, und wieder wissen lernen, dass es ein Zuweit gibt ... Wir müssen wieder Furcht und Zittern lernen und, selbst ohne Gott, die Scheu vor dem Heiligen.« Es liegt durchaus auf der von Hans Jonas vorgezeichneten Linie, das Tötungsverbot als ein solches Tabu zu verstehen.

Das Leben eines anderen Menschen darf nicht angetastet werden. Keiner hat über den Wert oder Unwert eines anderen menschlichen Lebens zu befinden – selbst nicht über das eigene. Dies entzieht sich auch schlicht unserer Kenntnis. Denn jeder ist ungleich mehr, als er von sich weiß. Keiner lebt nur für sich, und was einer für andere bedeutet, das wird er nie genau wissen. Ohne solche Anerkennung der Würde des anderen und ohne diese prinzipielle Einräumung seines unbedingten Lebensrechts ist überhaupt kein Zusammenleben von Menschen möglich. Das bedeutet: Das Töten eines anderen Menschen kann unter keinen Umständen eine Tat der Liebe und des Mitleids sein.

Was folgt daraus für die Frage der Selbsttötung? In der Selbsttötung verneint ein Mensch sich selbst. Welche Gründe auch dazu führen mögen – keinem Menschen steht darüber von außen ein Urteil zu. Die Beweggründe und die Entscheidungsmöglichkeiten eines anderen bleiben ebenso wie eventuelle Auswirkungen einer Krankheit im letzten unbekannt. Für einen Christen bedeutet die Selbsttötung eines anderen Menschen eine enorme Herausforderung: Er kann diese Tat im letzten nicht verstehen und nicht billigen – und kann dem, der so handelt, seinen Respekt doch nicht versagen. Jede Selbsttötung und jeder Selbsttötungsversuch können für ihn immer nur ein Unfall und ein Hilfeschrei sein.

Was folgt daraus für die Beihilfe zur Selbsttötung und die Tötung auf Verlangen? Es kann die Situation eintreten, dass einem Menschen der Tod besser zu sein scheint als ein schreckliches Leben und er an einen anderen jenes Verlangen stellt, ihn zu töten oder ihm bei der Selbsttötung zu helfen. Doch müsste ihm dann nicht – schonend, aber klar – gesagt werden, warum dieses sein Verlangen von einem anderen nicht übernehmbar ist? Ein Verzweifelter braucht intensive Zuwendung, um die Wahrheit zu erfahren, dass auch sein Leben nicht sinnlos ist. Zuweilen ist es für einen Angehörigen sehr bedrückend, mit ansehen zu müssen, wie schwer und qualvoll ein Mensch stirbt. Er prüfe sich selbst, ob es nicht seine Erschöpfung und seine ratlose Ohnmacht sind, die ihn zu dem Wunsch verleiten, dies sei nicht mehr auszuhalten. Käme ausgerechnet ein Arzt solchem Verlangen nach, so zöge er sich einen zerreißenden Konflikt zu zwischen seiner ärztliche Berufspflicht, Anwalt des Lebens zu sein, und der ganz anderen Rolle, einen Menschen zu töten. Täte er es auch aus Mitleid – ließe sich dann wirklich vermeiden, dass man ihm auch noch andere Motive zu unterstellen beginnt? Das aber wäre das Ende jedes Vertrauensverhältnisses zwischen Arzt und Patient.

Welche Aufgaben stellen sich konkret in der Sterbebegleitung? Menschlichem Leid dürfen wir nicht durch Tötung, sondern wir müssen ihm durch menschliche Zuwendung und Fürsorge begegnen. Es gilt, die Möglichkeiten helfenden Handelns zu erweitern und zu fördern, statt die Mitwirkung bei der Beendigung menschlichen Lebens zu legalisieren.

Zweifelsohne gibt es Extremsituationen. In ihnen kann es für den behandelnden Arzt zu einer Gewissensfrage werden, ob er das Begehren des Patienten standhaft zurückzuweisen vermag. Was auch immer geschieht – eines steht fest: Sich der generellen Frage nach der Beihilfe zur Selbsttötung oder der Tötung auf Verlangen von den Extremsituationen her zu nähern, führt in die Irre.

Dr. Hermann Barth, 1945 in Ludwigshafen am Rhein geboren, ist Präsident des Kirchenamtes der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD). Er war unter anderem Wissenschaftlicher Assistent am Alttestamentlichen Seminar des Fachbereichs Evangelische Theologie der Universität Hamburg und Gemeindepfarrer im pfälzischen Kerzenheim.

Prof. Dr. Rosemarie Will
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