»Genie des Bösen« in Osthofen
Der Künstler Tomi Ungerer zeigt Sonderausstellung in rheinland-pfälzischer KZ-Gedenkstätte
Das frühe Konzentrationslager bei Worms regte einst Anna Seghers zu ihrem später weltberühmten Roman »Das Siebte Kreuz« an. Seit 1976 beherbergt der einstige Ort des Naziterrors die Gedenkstätte KZ Osthofen. Mit ihrer Sonderausstellung »Gedanken bleiben frei« bietet sie bis 8. August ein zusätzliches, einzigartiges Lernumfeld: Tomi Ungerer, ein vor allem als Illustrator bekannter und vielfach ausgezeichneter Künstler, präsentiert erstmals in einer deutschen KZ-Gedenkstätte eigene Werke und Exponate aus seiner Sammlung zur nazideutschen Besetzung des Elsass von 1940 bis 1945.
Osthofen war kein Vernichtungslager für den systematischen Massenmord wie Auschwitz. Das ehemalige Fabrikgelände im damaligen Volksstaat Hessen diente zwischen März 1933 und Juli 1934 vor allem zur Einschüchterung politischer Gegner wie Kommunisten, Sozialdemokraten und Gewerkschafter und sollte abschreckend auf mögliche Widerständler wirken. Die ersten kamen bereits im März 1933 hierher, erklärt die Historikerin Ramona Dehoff. Sie begleitet Besuchergruppen, erläutert die Exponate der ständigen Ausstellung und ergänzt mit Details aus dokumentierten Zeitzeugenberichten. Hatten zuerst noch ortsansässige SA-Männer das Lager bewacht, wurden diese später durch SS-Leute aus Darmstadt und Offenbach abgelöst, die den Häftlingen als wesentlich grausamer in Erinnerung blieben. Doch 1933 bis 1934 sammelten die Gewaltherrscher noch Erfahrungen mit den Beherrschten und fürchteten aufrührerische Stimmungen in der Bevölkerung bei Todesfällen im Lager, weiß Ramona Dehoff.
Neben dem Rundgang durch das ehemalige KZ hat die Gedenkstätte den Besuchern in der aktuellen Ausstellung etwas Besonderes zu bieten: Mit »Gedanken bleiben frei« nimmt Tomi Ungerer die Titelzeile eines der von ihm gefühlsinnig bebilderten deutschen Volkslieder auf – und stellt die These mitten in die Stätte der Unfreiheit. Ein videografisch aufgezeichnetes Interview führt in die Persönlichkeit des bedeutenden Zeichners und Schriftstellers ein. Ungerer hat als Jugendlicher Besetzung und Befreiung des Elsass samt deutscher und französischer Propaganda erlebt. Er bekundet, lebenslang ein Unangepasster, unabhängig Denkender geblieben zu sein.
Die Idee, in Osthofen auszustellen, habe ihn »angefeuert«. »Der Goebbels war genial, aber ein Genie des Bösen!«, erklärt Ungerer, und er habe »den Feind mit seinen eigenen Waffen bekämpfen« wollen: Gekonnt setzt auch Ungerer Symbolik, kontrastierende Farben und Schlagworte ein. Besucher der Ausstellung sind zu vielfach sich überlagernden Perspektivwechseln herausgefordert: Deutsche und Franzosen, Täter und Opfer, Propagandisten und Indoktrinierte. Ein deutsch-nationalistisches Plakat zeigt einen Straßenbesen in Aktion mit der Zeile: »Weg mit dem welschen Plunder!« Fern von einseitiger Parteinahme urteilt Ungerer zum Beispiel über sein zeichnerisches Vorbild, den französisch-elsässischen Grafiker Jean-Jaques Waltz, genannt Hansi: »Leider war er Chauvinist!« Selbstverständlich ist auch Hansi in »Gedanken bleiben frei« vertreten. Sein Antwort-Plakat auf den »welschen Plunder«: Eine Straßenkehrmaschine befördert Nazihenker samt Zubehör als Dreck über die Grenze.
Zu zeitgenössischen Dokumenten der jeweiligen Widersacher – Fotos, Zeitungen, Flugblätter, Plakate, Schulbücher – stellt Ungerer selbst gesammeltes Archivmaterial in einen spannenden Zusammenhang: Kriegsspielzeug, Schülerarbeiten, ein Tagebuch. Die Zeichnungen des frühzeitig kritisch beobachtenden Acht- bis Zwölfjährigen lassen den werdenden Künstler erkennen. Einen Ehrenplatz nimmt sein Lieblingsteddy ein. »Otto« wurde Inspirator und Held im später berühmten Kinderbuch »Autobiografie eines Teddybären«. Auf der Projektionsfläche neben dem alten Kuscheltier erscheinen nacheinander die 16 Doppelseiten zum Betrachten. Mit versöhnlichem Happy End erzählt Ungerer Ottos Abenteuerreise quer durch deutsche und jüdische Kinderzimmer, Deportationsbahnhöfe, Bombenschutzkeller, Schlachtfelder, Lazarette, Slums und Trödlerläden. Die Ausstellung enthält auch eine frohe Botschaft: Ein Cartoon zeigt »Mutter Elsass«, ihre deutsch-französischen Zwillingsknaben nährend – humoriger Ausblick auf eine heute friedliche Normalität.
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