Mit dem Fahrrad im Inferno
Der Tag, an dem Hiroshima verschwand – Die Erinnerungen des Militärarztes Shuntaro Hida
In der Nacht vom 5. auf den 6. August 1945 wird der Militärarzt und Kamikaze-Trainer Shuntaro Hida, in Hiroshima geboren und dort im Lazarett tätig, zu einer Patientin in ein benachbartes Dorf gerufen. Zur gleichen Zeit starten auf der Marianen-Insel im Pazifischen Ozean drei Langstreckenbomber des Typs B-29. Eine der Maschinen, die von dem Luftwaffen-Oberst Paul Tibbets gesteuerte »Enola Gay«, trägt eine über vier Tonnen schwere Bombe, »Little Boy« genannt, über 2740 Kilometer nach Japan. Kurz nach 8 Uhr Ortszeit nähert sie sich ihrem Zielpunkt. Hida schaut in den wolkenlosen Sommerhimmel und glaubt an einen der üblichen Aufklärungsflüge. Wenig später explodiert in knapp 600 Metern Höhe über Hiroshima die erste in der Geschichte der Menschheit militärisch eingesetzte Atombombe.
Die Nacht war ein Albtraum
Ein riesiger Feuerring umfasst die Stadt, eine gewaltige, weiße Wolke steigt, immer größer werdend, aus dem Zentrum, in dem ein gigantischer Feuerball anschwillt. Eine lodernde Säule schießt gen Himmel, wächst zu einer riesigen, pilzförmigen Wolke an, leuchtet in allen Farben, als wolle sie den Glanz des Himmels übertreffen. Dem Blitz folgt die Detonation und ein orkanartiger Sturm, begleitet von einer Hitzewelle. Hida strampelt mit dem Fahrrad in das Inferno, das einmal die Stadt Hiroshima gewesen ist, und fragt: »Was ist unter diesem Feuer und unter dieser Wolke passiert?« Er hat Todesangst. Der Wind bläst ihm Asche ins Gesicht. Der Himmel ist nicht mehr zu sehen.
Eine Gestalt stolpert auf ihn zu: »Sie war nackt«, schreibt er in seinen Buch »Der Tag, an dem Hiroshima verschwand«, »schmutzig und voller Blut, ihr Körper stark geschwollen. Fetzen hingen an ihr herunter. Sie hatte die Hände vor der Brust, die Handflächen wiesen nach unten. Eine dunkle Flüssigkeit tropfte von den Fetzen herab. Die Fetzen waren Haut, die schwarzen Tropfen Blut. Ich konnte nicht erkennen, ob es ein Mann oder eine Frau war, ein Soldat oder eine Zivilperson. Der Kopf war riesig, die Augenlider und Lippen stark geschwollen. Kein Haar war mehr auf dem verbrannten Kopf. Ich wich zurück. Dieses sonderbare Wesen, eine Masse verbrannten Fleisches, über und über bedeckt mit Blut und Dreck, war ein Mann.« Hida versucht, seinen Puls zu fühlen. Doch es gibt keine Stelle, wo er eine Vene finden kann. Der Körper des Verbrannten bäumt sich nochmals auf und bleibt leblos liegen. Hida will ins Lazarett zurück, kommt aber nicht vorwärts: »Zahllose Überlebende, nur noch Stofffetzen am Leib, verbrannt und blutüberströmt, standen auf der Straße. Sie rutschten auf den Knien oder krochen auf allen Vieren ... Sie sahen nicht mehr wie Menschen aus.« Als der Arzt im Lazarett von Hiroshima ankommt, gibt es nichts mehr zu helfen, alles ist zerstört. Er kehrt an den Rand der Stadt zurück, wohin viele Schwerverletzte geflüchtet sind. »Die Schmerzensschreie und das Stöhnen der Verwundeten hallten über die Felder. Ich biss die Zähne zusammen, um nicht zu weinen. Ich musste weiterarbeiten. Die Nacht war ein Albtraum. Das Dorf hatte sich in ein Feldlazarett verwandelt. Die Pilzwolke am Sternenhimmel sah gespenstischer aus als am Tage.«
Nach fünf Tagen sind alle Schwerverletzten tot und die Ärzte mit unerklärlichen Symptomen konfrontiert: Fieber, Haarausfall, Pusteln, Blutungen, Halsschmerzen und kurz danach dem Tod. Alle, von der gleichen Strahlenmenge getroffen, sterben nach den Regeln der Kettenreaktion – »wie Tiere in Strahlenversuchen«. Sodann sind die ersten, nicht direkt von der Explosion betroffenen Opfer zu beklagen.
Auf dem Weg zur Arbeit ...
Die Strahlenkrankheit wirkt über den Tag der Kapitulation Japans am 15. August 1945 hinaus bis in die Gegenwart. Das Zeitalter der »atomaren Abschreckung« hat begonnen. Den Atombombenabwürfen auf Hiroshima und Nagasaki am 6. und 9. August 1945 fielen (nach Angabe des Gesundheitsministeriums in Tokio im Mai 1990) 300 000 Menschen zum Opfer.
Warum gerade Hiroshima? Hiroshima lag in einem Tal und schien den Militärs für die Erprobung und einen Test der radioaktiven Wirkung offenbar gut geeignet. Außerdem befand sich dort das militärische Hauptquartier der kaiserlichen Armee für Westjapan. Der Abwurf der Bombe morgens Viertel nach acht, wenn die Menschen auf dem Weg zur Arbeit sind, zielte darauf ab, möglichst viele zu treffen.
Trotz ihrer aussichtslosen Lage war die japanische Führung nicht zur Kapitulation bereit gewesen. Selbst der Einsatz von Napalm und die damit verbundenen verheerenden Schäden und Zehntausenden von Toten bewegte sie nicht zur Umkehr. Die US-Militärs gingen von hohen Verlusten bei einer Invasion aus. Mit dem Abwurf der Atombombe stellten die USA zugleich ihre militärische Überlegenheit unter Beweis. Sie wollten den sowjetischen Staatschef Josef Stalin einschüchtern. Obwohl die UdSSR noch ein Alliierter war. Auf der Konferenz in Jalta war man übereingekommen, dass sich die Sowjetunion drei Monate nach der deutschen Kapitulation von Sibirien aus an dem Krieg gegen Japan beteiligen sollte, also ab August 1945.
Wir haben uns daran gewöhnt, mit der Bombe zu leben. Die USA verfügten 1949 über 50 Atombomben, die Sowjetunion besaß nur eine. Heute gibt es Zehntausende von Atomsprengköpfen auf der Welt; das entspricht einer millionenfachen Sprengkraft der Bombe von Hiroshima. Alle Menschen auf der Erde ließen sich damit gleich mehrere Male töten. Wer kann sich solchen Wahnsinn noch vorstellen?
Auch in Deutschland lagern in der Eifel noch immer Atombomben; es sollen etwa 20 sein. Eine Bagatelle sind sie dennoch nicht. Die Bundesregierung aber schweigt dazu, statt sich dafür einzusetzen, dass die Atomwaffen von deutschem Boden verschwinden.
Perfide Geschäfte mit dem Tod
Längst ist auch die sogenannte friedliche Nutzung der Kernenergie als Gefahr erkannt. Namen wie Harrisburg und Tschernobyl sowie die weltweit nach wie vor ungeklärte Endlagerung hochradioaktiver Abfälle sprechen für sich. Und die Bedrohung will nicht enden. Rüstungs- wie Abrüstungsanstrengungen halten sich weitgehend die Waage. Die Konflikte der Staaten werden nicht nach dem Grundsatz »Friede durch Recht« gelöst. Stattdessen herrschen Misstrauen und Angst vor, Gewaltbereitschaft und Resignation, Machtdenken und Überlegenheitsdünkel, Argwohn und Drohgebärden. Das Vernichtungspotenzial wächst, wird weltweit gestreut durch Waffenexporte überall dorthin, wo es sich lohnt, Geschäfte mit dem Tod zu machen.
Von einer atomwaffenfreien Welt ist die Menschheit nach wie vor meilenweit entfernt. Daran hat auch das Versprechen Barack Obamas, eine Welt ohne Atomwaffen zu schaffen, nichts geändert. Die New Yorker Konferenz zur Überprüfung des nuklearen Nichtverbreitungsvertrages im Frühjahr dieses Jahres endete mit mageren und bestürzenden Ergebnissen.
Je mehr Mächte und Staaten über Atomwaffen verfügen, desto größer die Gefahr ihrer Anwendung. Mit den Folgen, unter denen die Opfer danach und bis heute zu leiden haben, hat sich der inzwischen 93-jährige Shuntaro Hida Zeit seines Lebens intensiv wie kaum ein anderer beschäftigt; das zeigt auch seine Studie über »Burabura«, die Atombombenkrankheit (»Die physischen und medizinischen Wirkungen auf die Opfer der Atombomben von Hiroshima und Nagasaki aus der Sicht eines Mediziners«). Man kann nur hoffen, auf seine Erfahrungen nie wieder zurückgreifen zu müssen.
Unser Autor (Jg. 1947) veröffentlicht in seinem Bremer Verlag antimilitaristische, pazifistische und friedenspolitische Bücher; zu den seit Anfang der 80er Jahre erschienenen über 300 Publikationen gehört der Bericht von Shuntaro Hida »Der Tag, an dem Hiroshima verschwand« (Donat Verlag, 12,80 €).
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