Ein Menschenleben im Discount kostet 5000 Dollar
Die Bundesrepublik kauft sich billig frei von den Folgen des Krieges am Hindukusch
Seit dem Beginn des Überfalls auf Afghanistan vor neun Jahren sind 2002 ausländische Soldaten getötet worden. Das ist auf der unabhängigen Website icasualties.org zu lesen. 1226 US-Soldaten und 331 britische stehen in der Statistik obenan.
Man kann es rechnen, wie man will. Immer steht Tod unterm Strich. Allein in diesem Jahr wurden bislang 434 Einsatzkräfte der internationalen Schutztruppe ISAF getötet. Im bislang blutigsten Jahr 2009 waren es 521. Insgesamt kostete der Afghanistan-Krieg bislang 43 deutsche Soldaten das Leben. Soweit die Verlustlisten der Militärs.
Die Liste der getöteten Afghanen – egal ob Aufständische oder unbeteiligte Zivilisten – lässt sich nicht so akribisch führen. Laut einem UN-Bericht sind seit Jahresbeginn mehr als 1271 Zivilisten getötet worden, ein Viertel mehr als im ersten Halbjahr 2009. Besonders dramatisch stieg die Anzahl der getöteten Kinder. Zudem wurden 1997 Zivilisten durch Anschläge sowie Kämpfe zwischen Rebellen und afghanischen sowie internationalen Truppen verletzt.
Wenn die bekannten Zahlen getöteter und verwundeter afghanischer Zivilisten zusammengerechnet werden, steigt die gesamte Opferzahl damit im ersten Halbjahr um 31 Prozent. Besonders Kinder und Frauen werden zu Leidtragenden der Metzeleien.
Auch die Bundeswehr tötet in Afghanistan Unschuldige, darunter Frauen und Kinder. Bislang schlich man sich immer mit Abfindungen, die keine Anerkennung von Schuld sind, aus der Verantwortung. Und so handhabt man das auch gegenüber den Opfern des Bombenangriffs, der Anfang September 2009 bei Kundus vom deutschen Oberst Georg Klein angeordnet worden ist. Die Bundeswehr zahlt betroffenen Familien 430 000 Dollar als »freiwillige Unterstützungsleistung«. Das Ministerium lobt sich – auch mit zahlreichen Fotos – über alle Maßen, wie »unbürokratisch« man die je 5000 Dollar pro Familie übergibt.
Der Kommandeur des Regionalen Wiederaufbauteams Kundus, Oberst Reinhardt Zudrop, und sein Stab bemühten sich in der vergangenen Woche höchstselbst zu einigen der Empfänger. Und natürlich finden sich dankbare Empfänger, die man für die im fernen Berlin erstellte ministerielle Website zitieren kann. Abdullah Qahar: »Das Geld hilft uns, ich werde mich um die Kinder kümmern, um ihnen eine bessere Ausbildung und Schulbildung zu ermöglichen.« Und Karim Gul will sich von dem Geld ein Auto kaufen, um damit Geld zu verdienen und so seine Familie besser ernähren zu können.
Der aktuelle Wiedergutmachungspreis beträgt pro Familie 5000 Dollar, rund 4000 Euro. Wenn es dabei bleibt, kommt die Bundesrepublik Deutschland diesmal billig davon. Denn der Wert eines Menschen scheint arg zu schwanken. Für eine an einem Checkpoint erschossene Frau überwies der deutsche Steuerzahler schon mal 20 000 Dollar, um die Familie eines getöteten afghanischen Jungen zu trösten, bot man 33 000 Dollar.
Diesmal gut verhandelt? Vor allem unfair! Denn hätte der Bremer Anwalt Karim Popal nicht so energisch für seine betroffenen Landsleute gestritten, wäre Deutschland wohl noch billiger davon gekommen. Popal forderte 33 000 Dollar für jeden, den Oberst Klein in jener Nacht des 4. September 2009 durch US-Bomben am Kundus-Fluss umbringen ließ. Er wollte Projekte gründen, die den Familien auch das wirtschaftliche Überleben gesichert hätten. Doch der Anwalt, so sagt er selbst, »war naiv«. Er sei »ohne Strategie in diesen Fall gegangen«.
Und damit in die Falle der herrschenden deutschen Politik und der juristischen Ministeriumsbürokratie. Sie ließen Zeit ins Land gehen, warteten ab, dass der sogenannte Kundus-Untersuchungsausschuss des Bundestages in Leere lief. Dann diskreditierte man den Opferanwalt und seine Helfer. Schließlich bootete das Guttenberg-Ministerium Popal aus.
Ausgestanden ist der »Fall Kundus« deshalb aber noch lange nicht. Karim Popal kündigte an, Schadenersatzklage vor deutschen Gerichten zu erheben. Der Erfolg hängt nicht nur von den zuständigen Richtern, sondern auch davon ab, wie lange das Bombardement am Kundus-Fluss und seine vermutlich über 140 Opfer noch im öffentlichen Bewusstsein der deutschen Bevölkerung bleiben.
Nicht nur Afghanen beklagen zunehmend die Opfer des Krieges. In den Ländern, die ISAF-Soldaten stellen, wächst die Anzahl der Kriegerwitwen und -waisen. Familien gehen zu Bruch, weil heimkehrende Soldaten traumatisiert und einem normalen Leben entwöhnt sind. Posttraumatische Belastungsstörungen lautet der Fachbegriff. Auch die Selbstmordrate unter den westlichen Kriegsteilnehmern steigt erschreckend an.
Der Krieg geht weiter. Der Oberbefehlshaber der US- und der ISAF-Streitkräfte, General David Petraeus, erklärte am Wochenende, er werde »ganz sicher« nicht davor zurückschrecken, von US-Präsident Obama eine Verschiebung des Abzugstermins zu fordern.
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