Kein Held ohne Fehl und Tadel
Eberhard Czichon und Heinz Marohn haben einen »Thälmann-Report« verfasst
Es war lange angekündigt – und nun ist es endlich auf dem Buchmarkt. Es wird zweifellos seine Leser finden, auch wenn sich nach wie vor die Parteien an Ernst Thälmann scheiden; vielleicht eben auch gerade deshalb. Das Interesse an den am 18. August 1944 im KZ Buchenwald ermordeten KPD-Vorsitzenden ist weiterhin ungebrochen.
»Einen Report« nennen die Autoren Eberhard Czichon und Heinz Marohn ihr Buch über Thälmann. Die zwei in die Jahre gekommenen Historiker, die bis zu dieser Publikation weder über Thälmann noch über die KPD intensiv geforscht haben, begründen die Wahl des Titels damit, dass sie sich nicht nur auf seine Lebensgeschichte konzentrieren, sondern diese mit dem »Erfolg der Kommunistischen Partei Deutschlands bei der Mobilisierung der Arbeiterklasse gegen kapitalistische Ausbeutung und für ein sozialistisches Deutschland mit ihren taktischen Widersprüchen und strategischen Grenzen untersuchen« wollten. Sie wollen um »die historische Wahrheit kämpfen, gegen den modernen Geschichtsrevisionismus«. Ehrenwert, aber ist damit ein realistisches Thälmann-Bild garantiert?
Inwieweit geht dieses Buch über die ca. 400 Seiten schmalere Thälmann-Biografie von 1979 hinaus? Die Autoren meinen, manch Neues zu bieten. Ist dem so?
Zunächst beeindruckt die schon fast erdrückende Fülle der hier präsentierten Fakten. Die Autoren waren fleißig am Werk. Sie stützen sich auf eine Unmenge von Archivmaterialien und Zeitzeugenberichten, deren Gehalt jedoch nicht kritisch hinterfragt wird. Dahingegen werden Autoren von in jüngster Zeit erschienenen Spezialuntersuchungen pauschal abqualifiziert, sofern deren Ergebnisse nicht den Wertungen von Czichon und Marohn folgen. Über jene urteilen sie im Rundumschlag: Sie würden Geschichte verzerren und zur antikommunistischen Legendenbildung beitragen.
Ein besonders brisantes Kapitel in der Biografie Thälmanns ist die bereits vielfach untersuchte Wittorf-Affäre. Czichon und Marohn bagatellisieren sie als einen »Konflikt«. In der Tat haben wir es hier mit einer Zäsur nicht nur im Leben Thälmanns, sondern in der Geschichte der KPD zu tun. Im September 1928 hatten sozialdemokratische und ultralinke Zeitungen über die Unterschlagung von Parteigeldern durch den damaligen Politischen Sekretär der Bezirksleitung Wasserkante der KPD, John Wittorff, berichtet. Thälmann und einer Handvoll weiterer Genossen war dies seit dem Frühjahr des Jahres bekannt, doch sie kaschierten die Sache. Am 26. September wurde auf einer Sitzung des ZK der Ausschluss von Wittorf beschlossen; Thälmanns Funktionen sollten bis zur vollständigen Aufklärung des Falls ruhen. Dies wurde in der KPD-Zeitung »Roten Fahne« publik gemacht. Nun trat Stalin auf den Plan. »Thälmanns Schuld wird dadurch gemildert, dass sein Fehler uneigennützig und von dem Wunsch diktiert war, dem Hamburger Sekretär die Möglichkeit zu geben, sich ohne Skandal zu korrigieren«, schrieb er am 1. Oktober 1928 an Molotow. Die Veröffentlichung des ZK-Beschlusses ohne Rückfrage bei der Komintern nannte er einen »feindseligen Akt gegen die Partei und die KI«. Damit war Thälmann gerettet, aber gänzlich in Abhängigkeit von Moskau, insbesondere von Stalin geraten. Diese historische Wahrheit vermisst man im Buch von Czichon und Marohn.
Als »Thälmanns letzte Rede vor dem ZK« wird von den Autoren – offiziellen DDR-Darstellungen folgend – der Auftritt des KPD-Vorsitzenden im Sporthaus Ziegenhals am 7. Februar 1933 genannt, obgleich diese nur eine Funktionärstagung war, was angesichts der seit dem 30. Januar erzwungenen Illegalität natürlich erscheint. Spitzenfunktionäre der KPD hatten untertauchen müssen und konnten nicht mehr so ohne Weiteres zu Beratungen zusammenkommen. Einen Nachweis für die Behauptung von ca. 40 Tagungsteilnehmern erbringen die Autoren nicht. Nicht erwähnt wird, dass es ein Sozialdemokrat war, der sein Lokal den Kommunisten für ihr illegales Treffen zur Verfügung gestellt hatte. Czichon und Marohn urteilen, dass Thälmann auch in Ziegenhals nicht erreicht habe, seinen Standpunkt gegen »innerparteiliches Sektierertum und zur Schaffung einer breiten Volksfront gegen den Faschismus« durchzusetzen. Doch war dies wirklich das Ziel der aufwendig vorbereiteten, gefahrvoll einberufenen und erzwungenermaßen abgebrochenen Konferenz? War nicht vielmehr der Wahlkampf zum Reichstag bestimmend? Thälmann gab die Wahlkampfstrategie vor und Hinweise für den zu entwickelnden antifaschistischen Widerstand, wie jüngere Forschungen erbrachten. Also auch hier nichts Neues.
Bis heute scheiden sich die Geister auch an der Frage, ob es eine reale Chance gegeben hat, den seit März 1933 eingekerkerten Thälmann frei zu bekommen. Zum Beispiel im Rahmen der Verhandlungen zum deutsch-sowjetischen Nichtangriffsvertrag von 1939. Czichon und Marohn nennen das Ausblenden dieser Möglichkeit durch Stalin sowie dessen Thälmann stigmatisierende Äußerungen von 1941 »Verrat an einem Kampfgenossen«. Deutlicher gesagt: Stalin hat so Mitverantwortung an Thälmanns Tod.
Neu in diesem Buch und abweichend zur gängigen Darstellung in der DDR ist die Sicht der Autoren auf die Rolle des Reichsführers SS Heinrich Himmler bei der Entscheidungsfindung zur Ermordung Thälmanns. Unerwähnt bleibt aber der entscheidende Grund für den Mord an Hitlers Sonderhäftling, der zeitgleich mit einer bis dahin ungekannten Verhaftungswelle unter dem Codewort »Gewitter« erfolgte. Dieser Mord gehörte zur Überlebensstrategie der Nazis. Detailliert hat dies Ronald Sassning in seiner – von den Autoren unterschlagenen – Publikation »Rückblicke auf Ernst Thälmann. Der KPD-Führer im Widerstreit der Meinungen« (Rosa-Luxemburg-Stiftung Thüringen, 2006) nachgewiesen.
Damit keine Missverständnisse aufkommen: Czichon und Marohn bieten keinen Ernst Thälmann ohne Fehl und Tadel. Dennoch drängt sich dem Leser der Eindruck auf, hier soll ein überwundener Heldenmythos wiederbelebt und fortgeschrieben werden.
Eberhard Czichon / Heinz Marohn: Thälmann. Ein Report. 2 Bände im Schuber, Verlag Wiljo Heinen, Berlin 2010. 1184 S., br., 32 €.
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