Flächentarif statt Dumpinglöhne
Bahngewerkschaften verhandeln ab heute erstmals mit den Privatbahnen um einen Branchentarif / Monatelange und komplizierte Verhandlungen für rund 10 000 Bahnbeschäftigte erwartet
Nach monatelangen Sondierungen eröffnen am heutigen Dienstag die Tarifgemeinschaft der Bahngewerkschaften Transnet und GDBA und eine Verhandlungsgemeinschaft aus fünf größeren Privatbahnunternehmen in Berlin ihre Tarifverhandlungen über einen Branchentarifvertrag für die Beschäftigten im Schienenpersonennahverkehr (SPNV). Separate Gespräche mit der Lokführergewerkschaft GDL fanden bereits am Montag statt.
Bei den Verhandlungen, die sich über Monate hinziehen könnten, streben beide Seiten dem Vernehmen nach einen einheitlichen Tarifvertrag für die privaten Bahnunternehmen mitsamt Tochterfirmen an. Die Gewerkschaften, die in den letzten Jahren im Zuge des Ausschreibungswettbewerbs zunehmend Lohn- und Sozialdumping bei Privatbahnen bemängelten, wollen mit dem Flächentarifvertrag einheitliche Einkommen und Arbeitsbedingungen für alle Beschäftigten durchsetzen. Ihr Ziel ist die Allgemeinverbindlichkeit nach dem Tarifvertragsgesetz. Werden Tarifverträge für allgemeinverbindlich erklärt, dann gelten sie verbindlich auch für nicht tarifgebundene und in einem Arbeitgeberverband organisierte Arbeitgeber und für Beschäftigte, die nicht Gewerkschaftsmitglieder sind. Dazu muss eine Gewerkschaft oder ein Arbeitgeberverband die Allgemeinverbindlichkeit beim Bundesarbeitsministerium beantragen. Zudem müssen bei den tarifgebundenen Arbeitgebern mindestens 50 Prozent der Beschäftigten der Branche tätig sein. Damit es dazu kommt, muss auch die Deutsche Bahn-Nahverkehrstochter DB Regio mitspielen, die heute in Berlin nicht offiziell am Verhandlungstisch sitzt, aber den Verlauf intensiv verfolgen dürfte.
Federführend für die Gewerkschaften sind der Transnet-Vorsitzende Alexander Kirchner und GDBA-Vize Heinz Fuhrmann. Ihnen sitzt auf Arbeitgeberseite eine Doppelspitze aus den Arbeitsdirektorinnen Ulrike Haber-Schilling (Veolia) und Ulrike Riedel (BeNEX) gegenüber. Die beiden repräsentieren neben ihren Unternehmen drei weitere Konzerne, die sich in den letzten Jahren im Zuge der Ausschreibungen des Schienenpersonennahverkehrs wichtige regionale Marktanteile erobert hatten: Abellio, Arriva und Keolis. Die fünf Privatbahnen umfassen mehrere Dutzend Tochterbetriebe und beschäftigen neben dem fahrenden Personal, also Lokführern und Zugbegleitern, auch Arbeiter in Werkstätten, Reinigung und anderen Servicebereichen mit geschätzten 10 000 Beschäftigten.
Dass die Privatbahnen bei regionalen Ausschreibungen überhaupt so stark zum Zuge gekommen sind und der DB Regio zunehmend Marktanteile abjagen, führen Kritiker vor allem auf eines zurück: deutlich geringere Lohnkosten und tarifliche Leistungen. Sie können so öffentlichen Aufgabenträgern und Verkehrsverbünden billigere Angebote unterbreiten. Während für das angestammte DB-Personal noch einigermaßen akzeptable Verträge gelten, liegen die Arbeits- und Sozialbedingungen bei vielen dieser Unternehmen deutlich darunter. Viele ehemalige DB-Beschäftigte haben in den letzten Jahren trotzdem bei einer Privatbahn angeheuert, weil sie sich und ihrer Familie den mit einem angebotenen DB-Arbeitsplatz etwa bei der S-Bahn in München, Stuttgart oder Frankfurt verbundenen Umzug nicht zumuten wollten.
Oftmals kümmern sich Privatbahnen erst nach dem Zuschlag in der Ausschreibung um die Rekrutierung ihrer Belegschaft. Sie können auf von den Arbeitsagenturen zugewiesene Erwerbslose zurückgreifen, für deren Schulung und Anstellung gibt es üppige Zuschüsse. Wer soeben der Arbeitslosigkeit entronnen ist, wird in der Regel bei der Einstellung nicht nach einem Tarifvertrag fragen, sondern die vorgegebenen Bedingungen in einem individuellen Arbeitsvertrag hinnehmen. Bis zur Bildung eines Betriebsrats und zum Abschluss eines Haustarifvertrags vergeht oft sehr viel Zeit.
Auch gegen solche Zustände protestierten Gewerkschafter jüngst mit einer Mahnwache in München. Sie kritisierten, dass bei SPNV-Ausschreibungen im Freistaat keine sozialen und tariflichen Mindestbedingungen gelten. Ihr Forderungskatalog umfasst auch eine ordentliche IHK-Ausbildung für Lokführer und Zugbegleiter. Klagen darüber, dass schlecht geschultes, entlohntes und motiviertes Personal auch der Sicherheit, Pünktlichkeit und dem allgemeinen Serviceniveau schaden könnte, werden auch anderswo laut.
Die Gewerkschafter betrachten es darum als Fortschritt, dass die fünf großen Privatbahnen zu ernsthaften Verhandlungen über einen Branchentarif nach Berlin kommen. Vermutlich wollen sie selbst planbare Verhältnisse schaffen, weil im beinharten Wettbewerb immer jemand noch billiger ist. Die Privaten beklagen, dass sich die Deutsche Bahn (DB) zunehmend mit Ausgliederungen und Billigtöchtern ohne Betriebsrat und Tarifvertrag wie etwa der »DB Regio Rheinland«, ehemals »DB Heidekrautbahn«, um Ausschreibungen bewirbt – für die DB »Notwehr«. So wird das Ringen um Branchentarif und Allgemeinverbindlichkeit zur Stunde der Wahrheit für Privatbahnen und die (noch bundeseigene) DB.
GDL und Co.
Die Verkehrsgewerkschaft GDBA ist die jüngste im Bunde der drei Bahngewerkschaften. Sie wurde 1948 gegründet. Nachdem die GDBA zunächst eine reine Beamtengewerkschaft war, öffnete sie sich 1963 für den Tarifbereich und kämpft seitdem für die Interessen der Bahnbeschäftigten. Ihren Namenszusatz trägt die »Verkehrsgewerkschaft« GDBA seit der Gründung der Deutschen Bahn AG 1994. Die GDBA ist Mitglied im deutschen beamtenbund tarifunion (dbb). Als 2009 Fusionspläne mit der Transnet bekannt wurden, warf der dbb die GDBA raus. Das Berliner Landgericht kippte den Rauswurf jedoch per Einstweiliger Verfügung.
Die Gewerkschaft Deutscher Lokführer (GDL) ist die älteste im Bunde und seit jeher eine Berufsgewerkschaft. Als Verein Deutscher Lokführer wurde sie 1867 als Berufsgewerkschaft gegründet. 1949 fand die erste Generalversammlung der GDL nach dem Krieg statt, der Beitritt zum dbb wurde beschlossen. Mit rund 34 000 Mitgliedern und einem Organisationsgrad von über 80 Prozent ist die GDL eine schlagkräftige Gewerkschaft, was sie bei Arbeitskämpfen etwa bei der Deutschen Bahn oder der Berliner S-Bahn in den letzten Jahren unter Beweis gestellt hat. Zum Thema Streiks bei den aktuellen Verhandlungen mit den Privaten sagte GDL-Chef Claus Weselsky der AFP: »Sie wissen, dass wir es können. Deswegen haben wir uns abgewöhnt, ständig damit zu drohen.«
Die Transnet wurde 1896 als Verband der Eisenbahner gegründet. Das DGB-Gründungsmitglied organisiert die Servicekräfte auf dem Bahnsteig, im Zug, aber auch in Bussen oder Callcentern. Daher der Name »Transport, Service, Netze«, den die Gewerkschaft seit 2000 trägt. Transnet hat rund 220 000 Mitglieder in vielen Bereichen und ist Tarifpartner von über 200 Unternehmen. Fast 80 Prozent der Betriebsräte im Transnet-Organisationsbereich sind Gewerkschaftsmitglieder. JME
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