Tragische Transen und Kampfgetöse

Erste Eindrücke vom internationalen Festival »Tanz im August«

  • Volkmar Draeger
  • Lesedauer: 3 Min.
Rubato
Rubato

Das überragende Erlebnis ist der diesjährige »Tanz im August« bisher noch schuldig geblieben, falls man nach fünf von 38 Produktionen schon urteilen darf. Eröffnet wurde Deutschlands größtes Tanzfestival von einer der renommiertesten europäischen Compagnien im Hebbel-Theater. Alain Platel und Co-Regisseur Frank van Laecke thematisieren in »Gardenia« das Aus eines spanischen Cabarets für Transvestiten und Transsexuelle. Nach langgedienten 40 Jahren Zugehörigkeit hebt sich über sieben alternden Herren und einer »echten« Dame letztmals der Vorhang. Vanessa Van Durme stellt sie nicht nur namentlich vor, sondern gab, angeregt von einem Film, auch die Idee zum Stück.

Ruhig, nirgendwo hektisch oder schrill, mit ein wenig Provokation inszeniert das Regieduo die Verwandlung ins andere Geschlecht, der sich viele besinnliche Töne beimischen. Als Beobachter von »außen« fungiert ein junger Mann, der zeitweise ebenso der Versuchung des Fummels unterliegt. »Große« Musik, Puccini, Verdi, Boléro, Schuberts leise flehende Lieder, begleitet das Hin und Her von Mann zu Frau; wie Häute liegen die Kleider dann auf der Szene. Dass in den Texten intime Geständnisse anklingen vom Wunschleben, der junge Mann mit der »echten« Frau ein Duett zwischen Liebe und Kampf auslebt, das auch die inneren Kämpfe jener Seilakrobaten zwischen den Geschlechtern meinen mag, hebt das Stück weit über einen Blick auf tragische Transen hinaus. Je mehr sie sich in Damen verwandeln, Glatzen unter Perücken, Bäuche hinter Glitzerstoff verschwinden, desto mehr leuchten jene Herren von 55 bis 75 auf, werden zur froh illustren Schar, die »Somewhere over the Rainbow« ihr Glück zu finden hofft.

Den Menschenrechten, zentrales Thema im Augusttanz 2010, widmet sich auch das Solo »Manta« von Héla Fattoumi, choreografiert mit Éric Lamoureux. Die arabischstämmige Französin changiert darin zwischen westlicher Frau und ganzverhüllter Orientalin, auf der Suche nach den Gefühlen unterm Schleier. Wie ein sandsteinernes Monument steht sie, nur die Augen frei, erinnert an Ruth Saint Denis’ Tanzexperimente, schrumpft zur Sphinx, wird beim Zusammenlegen von Stoffen zur bloßen Messlatte für das vorgeschriebene Format. Die Empörung darüber lässt sie die einengenden Schleier abwerfen und singend über »A Men’s World« sinnieren.

Geografisch weit entfernt fahndet Rubato im 25. Jahr seines Bestehens ebenfalls dem Umgang mit Menschen nach. Dass Berlins Exportschlager – bestehend aus Jutta Hell und Dieter Baumann – gleichsam in Chinas rauen Pelz die Laus einer feinen Compagnie für modernen Tanz setzt, ist glückliches Nebenprodukt ihres anderthalb Dezennien währenden Engagements für Tanz im Reich der Mitte. Sechs famose Könner, bereits in anderen Truppen erfolgreich, konnten sie zur neuen Formation Mahjong Dance verschweißen, die über das einzelne Projekt hinaus kreativ weiterarbeiten soll. »Look at me, I’m Chinese« stellt die Tänzer vor, lässt sie ihre Vorlieben benennen und das, was sie unter typisch chinesisch verstehen. Dass dabei bewusst europäische Klischees bedient werden, vom militärischen Drill daheim bis zum Geschenkeshop, wie ihn Asiaten hier betreiben, liegt auf der Hand. Hinter Folklorezitaten verbirgt sich das Verlangen nach dem Aufbruch, unter biederer Kleidung Wäsche von Calvin Klein. Schanghai, wo das Stück entstand, befindet sich im Magnetfeld zwischen Ost und West. Getanzt wird großartig, das Solo etwa von Chen Kai, dynamisch superb, technisch souverän im Spiel mit Verzögerungen, steht einzigartig da. Am Ende der vielen Episoden bleibt dennoch der Eindruck vom Besuch in einem multiplen Asia Shop.

Wie dem »Tanz im August« bislang der Tanz leicht abhandenkommt, dafür stehen zwei kleinere Produktionen: die clever gemachte Installation »Dead Reckoning« von Philipp Gehmacher & Vladimir Miller als flirrendes Spiel mit Videoaufzeichnungen; oder das rüde bis zärtliche Kampfgetöse »Still standing you« von Pieter Ampe & Guilherme Garrido, dies allerdings mit ironischem Tenor.

Bis 3.9., Kartentelefon 25 90 04 27 und 24 74 98 80, Infos unter www.tanzimaugust.de

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