Naturschönheiten und frühes Leid

Im Kino: Der Berlinale-Gewinner 2010 »Bal – Honig« von Semih Kaplanoglu

  • Alexandra Exter
  • Lesedauer: 3 Min.

Bevor dieser Film beginnt, weiß der Kinogänger, der Semih Kaplanoglus Filme »Yumurta« und »Süt« gesehen hat, über das Kind im Zentrum von »Bal – Honig« bereits mehr als dessen eigene Familie. Man hat den jungen Mann erlebt, der aus diesem Schulanfänger einmal werden wird, und der am Kleinstadtleben im selben Haus mit seiner Mutter verzweifelt, mit der ihn wenig Wärme oder Verständnis verbindet. Hat den Mann mittleren Alters begleitet, den Dichter, der nach dem Tod seiner Mutter an den Ort seiner Kindheit in der türkischen Schwarzmeerregion zurückfährt. »Bal – Honig« ist der diesjährige Berlinale-Gewinner, aber auch der dritte Teil einer Trilogie, die sich über drei Filmfeste hin chronologisch rückwärts abspulte, Cannes 2007, Venedig 2008, Berlin 2010. Der kleine Junge mit den großen Augen und den noch größeren schulischen Schwierigkeiten kommt zuletzt. Vorher war der Jüngling, war der Mann. Jedenfalls aus der Sicht des Zuschauers.

»Bal – Honig« zeigt Yusuf im Alter von sechs Jahren. Vom Yusuf der späteren Jahre unterscheiden ihn diverse Dinge, vor allem aber eines: im Alter von sechs Jahren hat Yusuf noch Vater und Mutter. Und es ist der Vater, dem er nacheifert, der Vater, der die Falken zähmt, alle Pflanzen bei Namen und Eigenschaften kennt und so viele nützliche Dinge zu tun weiß, den er verehrt – vielleicht schon deshalb, weil der Vater schweigsam ist und oft außer Haus und mit seinen Bienenstöcken in den Wäldern unterwegs. Mit der Mutter verbindet den Jungen schon im Erstklässleralter herzlich wenig, und es schmerzt, sich die Einsamkeit seiner weiteren Kindheit vorzustellen, die auf das schwierige Verhältnis des Erwachsenen zu seiner Mutter hinführt. Denn dass Yusuf bald Halbwaise sein wird, das verrät ihm ein Traum gleich zu Beginn des Films.

Der Vater bricht trotzdem auf, seine Bienenstöcke höher hinauf in den Wald, ins Gebirge, in die Baumkronen zu befördern, weil eine rätselhafte Krankheit alle Bienenvölker in der näheren Umgebung umbringt. Als der Vater auch nach Tagen nicht aus dem Wald zurückkehrt, überrascht das Yusuf daher am wenigsten. Wie sehr der Verlust der Bezugsperson sein Leben prägen wird, kann nur der Zuschauer absehen, der »Yumurta« (Ei), »Süt« (Milch) und »Bal – Honig« in der Reihenfolge ihrer Entstehung gesehen hat und bereits weiß, wie das weitere Leben dieses hübschen, stillen Kindes aussehen wird, das ins Stottern gerät, wenn es vor der Klasse lesen soll. Milch von den heimischen Kühen wird Yusuf verkaufen, die Milch, die er als Kind nicht trinken mochte. Dichter wird er werden, er, der mit der Sprache nie zurecht kam. Aber den frühen Verlust des vom Baum gestürzten Vaters wird er noch Jahrzehnte später als emotionale Hypothek mit sich herumtragen, als das geborgene Leben der frühen Jahre in dem großen Haus am Waldrand längst nur noch Erinnerung ist.

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