Aufbruch in die eigene Moderne
In der Akademie der Künste zeigt »Das Verlangen nach Form« zeitgenössische Kunst aus Brasilien
Dass der Landgigant Brasilien nicht nur Bossa Nova und Brasilia ist, darüber informiert eine Ausstellung in der Akademie der Künste. Auf gut 2000 Quadratmetern Fläche in den drei Hallen am Hanseatenweg dokumentieren rund 180 Exponate den rasanten Aufbruch brasilianischer Kunst in eine eigene Moderne, deren Vielfalt verblüfft und die dennoch ihre Anregung durch Strömungen Europas nicht leugnet.
Präsident Juscelino Kubitschek trieb Ende der 1950er nicht nur den wirtschaftlichen Umbau des Landes voran und träumte davon, in fünf Jahren den Fortschritt von 50 Jahren nachzuholen, sondern setzte auch unter den Künstlern enorme Kreativität frei. Die geometrische Abstraktion, wie ihre europäischen Kollegen sie zwischen den Weltkriegen entwickelt hatten, inspirierte Brasiliens Künstler zu regen Debatten und führte zur Begründung des Neoconcretismo.
Nicht mehr Übernahme überseeischer Errungenschaften hieß die Devise, sondern etwas Eigenes durch Weiterführung und Anverwandlung der Konzepte galt es zu finden. Ausgangspunkt der Bestrebungen waren der russische Konstruktivismus und die Lehren des Bauhauses, wie sie etwa der Schweizer Architekt und Designer Max Bill als Vertreter der Zürcher Schule des Konkreten fortführte und bei zahlreichen Aufenthalten in Brasilien, nicht ohne teils kritische Resonanz, popularisierte.
War in der Musik der bis nach Europa ausstrahlende Bossa Nova das Fanal jenes Aufbruchs, so fand er im stark vorangetriebenen Bau einer neuen Metropole seinen wohl sichtbarsten Ausdruck in der bildenden Kunst. In nur vier Jahren entstand unter Oscar Niemeyer und Lucio Costa als Planer das als Kreuz konzipierte, 1960 eingeweihte, heute zum Weltkulturerbe zählende Brasilia und löste das weit entfernte Rio de Janeiro als alte Hauptstadt ab. Die schlechten Bedingungen der am Stadtrand siedelnden Bauarbeiter trübten den Mythos vom steigenden Lebensstandard. Ein spät gefundener Film von 1957 zeigt die ersten Bauphasen.
»Das Verlangen nach Form«, dies der Titel der Ausstellung, erfasste auch andere Gebiete der Kunst. Museen und Institute für zeitgenössische Kunst entstehen, eine selbst zum Kunstwerk tendierende Zeitschrift wird Podium intensiver Diskussion, die 1951 begründete Kunstbiennale eifert dem Vorbild Venedig nach. Manifeste werden verfasst, die »Konkrete Poesie« erhebt das Gedicht zum »seh- und gebrauchsgegenstand«, der durch »kürze und knappheit« wirken soll. Wenige Worte nur füllen nun, auch dies zu besichtigen, das Blatt.
Vielfältig sind die Beziehungen zwischen brasilianischen und deutschen Künstlern. Die einen studieren etwa in Max Bills Ulmer Hochschule für Gestaltung, andere, wie Roberto Burle Marx als maßgeblicher Landschaftsgestalter von Brasilia, in Berlin. Hans Scharoun erbaut die Deutsche Botschaft in Brasilia, mit einem Garten von Burle Marx. 1963 entsteht die Hochschule für industrielles Design. Auch nach dem Militärputsch von 1964 und in den folgenden zwei Jahrzehnten autoritärer Staatsführung kann die Kunst ihre Recherchen fortsetzen.
Wie die Leistungen des Neoconcretismo bis in die Gegenwart wirken, auch darüber informiert die gut gegliederte, weiträumig gefasste Exposition in Skulptur, Gemälde, Druckgrafik, Zeichnung, Foto, Film sowie Archivalien. Von Hélio Oiticicas hängenden Raumformen, Milton Dacostas geometrischer Ölmalerei, Amilcar de Castros metallenen Auffaltungen über Lygia Clarks Aluminium-»Kreaturen« und ihre Strukturen aus Streichholzschachteln bis hin zu Lygia Papes »Neokonkretem Ballett« in der Schlemmer-Nachfolge reicht die Auswahl im historischen Teil.
Carla Guagliardis Installation aus Ballons und Holzdielen oder ihre im Raum schwebenden »Gas-Paare« – mit Helium respektive Luft gefüllte Ballons – folgen dem »Verlangen nach Form« ebenso wie Carlos Bevilacquas erst 2010 kreiertes »Ek-distante« als wundersam transparente Komposition aus Holz, Stahl, Steinen, Blei- und Fieberfäden.
Bis 7.11., Akademie der Künste, Hanseatenweg 10, Tiergarten, Telefon 200 57 20 00
Das »nd« bleibt gefährdet
Mit deiner Hilfe hat sich das »nd« zukunftsfähig aufgestellt. Dafür sagen wir danke. Und trotzdem haben wir schlechte Nachrichten. In Zeiten wie diesen bleibt eine linke Zeitung wie unsere gefährdet. Auch wenn die wirtschaftliche Entwicklung nach oben zeigt, besteht eine niedrige, sechsstellige Lücke zum Jahresende. Dein Beitrag ermöglicht uns zu recherchieren, zu schreiben und zu publizieren. Zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!
Mit deiner Unterstützung können wir weiterhin:
→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.
Sei Teil der solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.