»Wir brauchen das Gedächtnis des Lebens«
Zum 200. Gründungsjubiläum öffnet das Berliner Naturkunde-Museum eine weitere Schatzkammer
Im Schatten des prächtig renovierten Ostflügel des Berliner Museums für Naturkunde liegt ein verzaubertes Gartenfleckchen: Pfirsiche blühen da im Sommer zusammen mit hunderterlei anderem Grün, das munter aus alten Holzkisten mit der Aufschrift »Havana/Cuba« sprießt. Es sind die Original-Verpackungen einer Fuhre wertvoller Korallen, die von einer DDR-Expedition aus den 1960er Jahren stammen. Lebendiges Neues wächst aus Altem. Das passt. »Einer meiner Lieblingsplätze hier im Haus«, sagt Prof. Reinhold Leinfelder (53), seit 2006 Generaldirektor des Museums. »Neben dem Knochenkeller natürlich und dem Kinder-Exploratorium.«
Das Credo des studierten Geologen und Korallenfachmannes: »Ich sehe unsere riesigen Sammlungen nicht als totes Archiv, sondern als ein Gedächtnis des Lebens, das wir weltweit vernetzen und uns als Datengrundlage für die Zukunft nutzbar machen müssen.« Umweltschutz, Artensterben, Klimawandel: Groß ist die Palette der Herausforderungen, für deren Bewältigung die rund 30 Millionen Sammlungsobjekte vom Tiefseefisch bis zum Zitronenfalter wertvolle Daten liefern.
Um kenntlich zu machen, wie hoch das darin noch schlummernde Potenzial ist, greift der Bayer zum Pizza-Vergleich: »Wäre die Welt so einfach wie der Belag einer Pizza Margherita, wäre schon eine kleine Sammlung ausreichend, um ein repräsentatives Abbild der Artenvielfalt zu geben. Die Welt ist aber komplizierter als eine Quattro Stagioni, ja sogar als eine Mille Stagioni, daher brauchen wir Sammlungen aus aller Welt.«
Die internationalen Forscher, die in Berlin dieses Füllhorn nutzen, arbeiten deshalb zugleich in enger Vernetzung mit anderen großen Naturkundemuseen. Dieses Expertenwissen, das ja auch an Sammlungsstücken aus imperialer Zeit erworben wird, in die Gesellschaft zu tragen, sieht Leinfelder als Aufgabe der Zukunft.
Der imposante Bau aus dem 19. Jahrhundert, der im Zweiten Weltkrieg schwer zerstört wurde und danach eher verstaubten Charme versprühte, scheint seit 2006 wie aus dem Dornröschenschlaf erwacht und macht seinem Weltrang wieder alle Ehre: Die Besucherzahlen haben sich auf mehr als 500 000 Menschen im Jahr fast verdreifacht. Die frühere U-Bahnstation Zinnowitzer Straße heißt heute »Naturkundemuseum« und macht Berlinern wie Touristen Lust auf eine Visite bei Dinos und Sternenstaub.
Modernisierte Ausstellungskonzepte, die unter anderem Zeitreisen durch das Universum erlauben, spannende Sonderschauen – darunter Renner wie »Tiefsee« und »Darwins Reise zur Erkenntnis« – begeistern. Es gibt Filmnächte über Meeresungeheuer, Klassikkonzerte unter Sauriern und Taschenlampenführungen nachts im Museum, bei denen der Nachwuchs, sich leise gruselnd, Nilpferden ins Maul leuchtet.
»Aber wir wollen keine Harlekine der Gesellschaft sein. Ich kann – nicht ohne Stolz – sagen, dass unsere Konzepte Vorbild für viele andere große Häuser sind«, sagt Leinfelder. Er möchte über die Disziplinen hinweg anregen, über Herkunft und Zukunft des Lebens nachzudenken. »Und das geht am besten, indem man selber forscht.« Deshalb gehört der Aspekt des »Selber-Machens« zu allen Ausstellungen dazu.
»Die Naturwissenschaften können viel über die Funktionen des Lebens aussagen. Aber wo der Sinn des Lebens liegt, das muss jeder für sich selbst entscheiden«, ergänzt der Forscher. Der Frage, ob er gläubig sei, weicht er schmunzelnd aus: »Ich bin gegen alles, was fundamental daherkommt, nur schwarz oder nur weiß ist. Es gibt ein so unendlich großes, schönes und buntes Farbspektrum dazwischen. Ich kann aber sagen: Moderne Naturwissenschaften schließen eine moderne Theologie keinesfalls aus.«
Das 200-jährige Bestehen feiert das Museum mit einer großen Jubiläumsausstellung, die heute öffnet. Ein Extrakt aus den rund 30 Millionen Objekten des Museums zeigt die bewegte Geschichte unter verschiedenen geistigen Strömungen. Zudem kommt mit dem wiederaufgebauten Ostflügel als eine Attraktion die Nass-Sammlung mit rund einer Million zoologischen Objekten hinzu. In 276 000 Gläsern mit 81 880 Litern Alkohol sollen Fische, Spinnen, Krebse, Amphibien, Säugetiere und weitere Objekte zu sehen sein.
Leinfelders Vertrag läuft Ende des Jahres aus. Seine Bilanz der ersten Jahre: »Es war manches schwerer als gedacht, denn in Berlin laufen Entscheidungsprozesse nicht stetig, sondern eher wie eine Fieberkurve.« Dennoch ist der Posten eine Art Traumjob für ihn. Pläne für eine Berliner Zukunft hat der gebürtige Augsburger, der mit Frau und Kindern in der Stadt lebt, deshalb bereits in der Tasche: Nach der Öffnung des Ostflügels noch mehr Sammlungen der Öffentlichkeit zugänglich zu machen, Räumlichkeiten für Kongresse zu schaffen, das Foyer urbaner zu gestalten und mit einem einladenden Café zu versehen. Einziger Nachbesserungsbedarf: »Ich möchte künftig wieder mehr forschen können«, gibt Leinfelder zu. Und sonst? Er deutet auf eine riesige Kastanie, die gleich neben dem »Zaubergarten« steht. »Da könnte noch prima ein Biergarten hin.«
Invalidenstraße 43, 10115 Berlin, www.naturkundemuseum-berlin.de
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