- Kultur
- Personalie
Der Ästhet
Fritz J. Raddatz / Der Schriftsteller erhielt den Hildegard-von-Bingen-Preis für Publizistik
Ein Letzter. Die Letzten sind Vorreiter noch dann, wenn die Welt nur noch sich selber hinterherschlurft. Die Vorreiterschaft dieses Mannes ist trotzdem von sehr weit gestern – als drei Buchstaben noch ein Adelswort bildeten, mehr waren als nur kreischender Aufputz. Das Wort: »Ich«. Für den Dandy, den extravganten Ästheten Fritz J. Raddatz war »Ich« stets Credo wider die mittlere Aufmerksamkeit. Wo Raddatz sich aufhielt, wurde ein Mittelpunkt geboren, frei nach Thomas Mann: Wer sich nicht wichtig nimmt, wird verkommen. Vorkommen ist besser. Raddatz kam immer vor, selbst sein Grab steht fest: auf Sylt, wo sonst.
Fritz J. Raddatz, 1931 in Berlin geboren, Cheflektor des Kindler Verlags, stellvertretender Rowohlt-Verlagsleiter, jahrelang Kulturchef der Hamburger »Zeit«, Romancier, Essayist – »ein Schriftsteller, der ein Leben lang in einer Zeitung arbeitete« (Thomas Brasch). So atmen seine Biografien über Benn, Heine, Tucholsky den Atem des expressiven Erzählers; seine »Zeit«-Dialoge mit Hermlin, Solschenizyn, Amado, anderen: internationale Gewissensforschung.
Er hasste »redliche Intellektualität«. Er schrieb gemäß der ersten Geistes-Regel des Aphoristikers Cioran: Nichts Gefährliches, Riskantes dürfe uns fremd bleiben. Hinweg mit dem Händchenhalten für Leser! Aufstören! Wie sonst soll zwischen Leuten, die am Denken interessiert sind, Intensitätserfahrung entstehen. Und kitzelnde Feindschaft! »Homosexualität und Kommunismus, rechtes und linkes Lager, jede mögliche Überschreitung – das war für schlichte Gemüter stets zuviel«, so der Verleger Michael Krüger. Aus der »Zeit« warf man ihn hinaus, weil er Goethe in eine Eisenbahn steigen ließ, die es noch nicht gab. Dumm. Aber ein Akt kleiner Rachegeister – bald trauerte man seinem Geist nach.
Bis 1958 war er Vize-Cheflektor in Ostberlins Verlag Volk und Welt. Floh schließlich entnervt. Aber zur Begründung des Widerspruchs, es trotz geistiger Schmerzen in der Unfreiheit ausgehalten zu haben, flüchtete er sich nie in die Relativitäts-Formel: »Ich war jung und glaubte ...«. 2007 schrieb er über sein »Versagen als Bürger der DDR« zwei Sätze: »Ich wurde nicht missbraucht. Ich habe mich selbst missbraucht.« Ich: Eitelkeit und Eingeständnis. Der Souverän.
Das »nd« bleibt gefährdet
Mit deiner Hilfe hat sich das »nd« zukunftsfähig aufgestellt. Dafür sagen wir danke. Und trotzdem haben wir schlechte Nachrichten. In Zeiten wie diesen bleibt eine linke Zeitung wie unsere gefährdet. Auch wenn die wirtschaftliche Entwicklung nach oben zeigt, besteht eine niedrige, sechsstellige Lücke zum Jahresende. Dein Beitrag ermöglicht uns zu recherchieren, zu schreiben und zu publizieren. Zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!
Mit deiner Unterstützung können wir weiterhin:
→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.
Sei Teil der solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.