Party im Regierungsviertel
Zehntausende Atomkraftgegner zeigten der Politik am Wochenende ihren Unmut – Arne K. war einer von ihnen
Arne K. war schon lange nicht mehr auf einer Demonstration. Früher, sagt der 58-jährige Lehrer, Anfang der 1980er Jahre also, da ist er bei den großen Friedenskundgebungen gegen die Mittelstreckenraketen mitgelaufen, und einmal war er auch im schleswig-holsteinischen Brokdorf, um gegen den Bau des dortigen Kernkraftwerks zu demonstrieren. Doch dann hat er sich ausgeklinkt aus dem aktiven Protest, Job, Familie, wohl auch ein bisschen Frust, und sich irgendwie eingerichtet.
Jetzt aber reicht es ihm. »Was da in der Atompolitik passiert«, sagt Arne, »das geht doch auf keine Kuhhaut«. Die längeren Laufzeiten für die Atomkraftwerke seien nur das eine. Das andere aber die nächtlichen Mauscheleien der Politiker mit den Konzernen, die Geheimverträge, die Schutzklauseln, die den Stromunternehmen und ihren Aktionären Milliardengewinne sichern.
Wir treffen uns mittags am Berliner Hauptbahnhof. Von Hannover, wo Arne wohnt, nach Berlin dauert die Fahrt im ICE nur gut anderthalb Stunden. Den Fahrpreis von 62 Euro (mit Bahncard 50) kann er sich leisten. Auf Gleis 11 rollt grade der erste von drei Sonderzügen ein, hunderte Demonstranten mit Anti-AKW-Fähnchen steigen aus, auf den Bahnsteigen ist mächtig Stimmung, die Rolltreppen und Aufgänge sind verstopft, mitten im Gedränge probt ein Chor für den späteren Auftritt.
Zuerst will Arne mal eine Runde über den Kundgebungsplatz drehen. Eigentlich sollte der ja auf der Wiese vor dem Reichstag sein, aber das Grünflächenamt hatte sich quer gestellt, das Verwaltungsgericht auch, und deswegen steht die riesige Bühne jetzt auf dem Washingtonplatz direkt am Hauptbahnhof. Umweltverbände und Anti-AKW-Initiativen haben ihre Stände schon aufgebaut. SPD, Linkspartei und die Grünen sind präsent, auch etliche linksradikale Kleinparteien, wie die MLPD oder die Trotzkisten. Das hätte er ja nicht gedacht, sagt Arne, dass es die überhaupt noch gibt.
Der Ökostromanbieter Lichtblick hat seine Stromwechselstube geöffnet. Biobratwurst, Eintopf und Waffeln werden angeboten. Über dem Platz ein Meer von Fahnen und Luftballons.
Die Auftaktkundgebung ist eigentlich keine richtige Kundgebung. Dirk Seifert von Robin Wood und Christoph Bautz von Campact versprechen der Regierung einen »heißen Herbst«, machen anschließend ein paar organisatorische Ansagen und kündigen dann die »Bots« an, die niederländische Kult-Polit-Band aus den 1980ern. Arne hat sie damals auch zwei- oder dreimal gesehen. Als die Gruppe ihre großen Hits »Aufstehn«, »Das weiche Wasser spült den Stein« und »Sieben Tage lang« spielt, hat Arne Tränen in den Augen.
Aufkleber für die FDP, Schottern im Wendland
Dann steht Willem Wittstamm auf der Bühne. Der auch als »Mr. X« bekannte Schauspieler und Anti-AKW-Entertainer aus dem Wendland will die Menge noch rasch über das Unwort des Jahres abstimmen lassen. Drei Begriffe gibt es zur Auswahl, das Wort, das die lautesten Zurufe und Pfiffe erntet, gewinnt. »Jahrhundertsommer?« Nur Gemurmel. »Wachstumsbeschleunigungsgesetz?« Da blasen schon einige hundert Leute in ihre Trillerpfeifen. »Laufzeitverlängerung?« Sambatrommeln, Vuvuzelas, lautes Geschrei. »Über 100 Dezibel«, sagt Wittstamm, »das war eindeutig.«
Als sich die Demonstration dann über das Kapelle-Ufer in Bewegung setzt, möchte Arne sich zunächst weit vorne einreihen, in Sichtweite der fünf Trecker aus dem Wendland, die den Zug anführen. Doch dann bleibt Arne immer wieder stehen, steigt auf eine Mauer und lässt die Demonstranten an sich vorbeidefilieren. Alte und Junge, Familien mit Kinderwagen, Sambagruppen, ein »Weißer Block« mit Leuten in Schutzanzügen, gelb-schwarz geschminkte Gesichter, so viele Menschen, so viele Fahnen.
Vor der FDP-Zentrale in der Reinhardtstraße stehen ein paar Polizisten, das Haus zählt zu den »gefährdeten Objekten«. Aber die Scheiben einwerfen will an diesem Tag niemand, das Gebäude verschönern schon. Zuerst machen nur wenige mit, dann kleben immer mehr Demonstranten Anti-Atom-Sticker auf FDP-Fenster und -Fassade. Die Beamten stehen daneben und gucken in die Luft.
Viele Flugblätter und Transparente mobilisieren zu den Anti-Castor-Protesten im Wendland. Am ersten Novemberwochenende soll ein Atommüllkonvoi mit hoch radioaktivem Schrott an der französischen Wiederaufarbeitungsfabrik La Hague in Richtung Atommülllager Gorleben starten. Lüchow-Dannenberger Atomkraftgegner haben zu Massendemonstrationen und Blockaden aufgerufen. Eine »Kampagne Castor Schottern« hat angekündigt, die Bahnstrecke zwischen Lüneburg und Dannenberg zu unterhöhlen und so für die Atommüllfuhre unpassierbar zu machen. Mehr als 60 Gruppen wollen sich an dieser Aktion beteiligen, auch Bundes- und Landtagsabgeordnete sowie die Liedermacher Konstantin Wecker und Hannes Wader unterstützen die Idee. »Wenn das noch weiter um sich greift, dann fährt der Castor nicht los«, sagt Arne.
An der Kreuzung Dorotheenstraße/Wilhelmstraße wird der Demonstrationszug geteilt. Die meisten Leute laufen weiter geradeaus in Richtung Reichstag und Bundeskanzleramt, tausende biegen rechts ab über die Spreebrücke zum Schiffbauerdamm. Auf dem Wasser kurvt zwischen den üblichen Touristen- und Ausflugsschiffen auch ein rotes Boot mit Anti-AKW-Aktivisten. Sie schwenken Fahnen, die Leute am Ufer jubeln und klatschen.
Früh ist klar, dass eine organisierte Umzingelung des Regierungsviertels nicht wie geplant stattfinden wird. Immer wieder bilden sich neue Demozüge, auf allen möglichen Wegen und über alle Brücken strömen die Demonstranten kreuz und quer in das Viertel, auf dem Schiffbauerdamm geht es mindestens eine halbe Stunde lang weder vor noch zurück. »Macht doch nichts«, sagt Arne lachend. »Ein bisschen Durcheinander ist gar nicht schlecht.«
Auch der junge Mann mit dem Mikrofon auf dem Lautsprecherwagen der Naturfreunde Deutschland blickt nicht mehr so recht durch. Weil immer noch mehr Menschen ins Regierungsviertel nachrückten, werde das angekündigte »Protestsitzen« verschoben, kündigt er an. Dann soll es ganz ausfallen, schließlich doch stattfinden. »Und zwar jetzt sofort«, schreit der Naturfreund, und tatsächlich lassen sich alle für ein paar Minuten auf dem feuchten Asphalt nieder – kurz vorher ist ein Regenschauer niedergegangen.
Gleich danach ist »Atomalarm«. Alle sollen gleichzeitig in ihre Tröten und Pfeifen pusten und, so doll sie können, auf Pauken und mitgebrachte Blechfässer einschlagen. Der Lärm ist ohrenbetäubend. Der Naturfreund auf dem Lautsprecherwagen treibt die Menge mit immer neuen Angaben über Teilnehmerzahlen an: 100 000, 200 000, 250 000!
Atommülldosen für die Regierenden
Von einem anderen Wagen dröhnt Technomusik, hunderte tanzen. Zurück auf dem Washingtonplatz braucht Arne erst mal was Warmes in den Bauch. Seit dem Frühstück in Hannover hat er nichts mehr gegessen. Er entscheidet sich für eine Gulaschsuppe für 4,50 Euro, »ganz schön happig, schmeckt aber gut«. Die Kundgebungsreden, sagt er, interessieren ihn eigentlich nicht besonders, das kennt er alles, lieber will er noch was unternehmen. Der Zug, für den er reserviert hat, fährt erst kurz vor sieben.
Zuallererst muss Arne aber seinen Atommüll loswerden. Viele derjenigen Demonstranten, die beim Bundeskanzleramt vorbei gekommen sind, haben dort ihre mitgebrachten Blechdosen entsorgt. Für alle anderen ist auf dem Washingtonplatz hinter einer Umzäunung eine weitere Deponie eingerichtet worden. Dort türmt sich neben rund einem Dutzend großer gelber Tonnen mit dem Radioaktivitätszeichen bereits ein ansehnlicher Berg aus kleineren Büchsen. Arne nestelt aus seinem Rucksack eine Dose und schleudert sie über den Zaun. Wer will, kann seinen Müll auch über ein eigens installiertes Förderband auf die Halde transportieren.
Dann sickert durch, dass einige hundert Atomkraftgegner vor dem Westeingang des Reichstags sitzen und den Zugang zum Gebäude blockieren. Auf der Bühne macht sich leichte Unruhe breit. »Wir brauchen keine Bilder von Atomkraftgegnern, die vor dem Reichstag verhaftet werden. Das schadet unserer Sache«, ruft Demo-Anmelder Uwe Hiksch. »Die sollen sich nicht so haben«, sagt Arne und geht auf die Brücke zu, die über die Spree zum Reichstagsgelände führt. »Ich lauf’ da noch mal eben rüber und gucke nach dem Rechten.«
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