Vom Genom zum Organismus
Max-Planck-Forscher untersuchen den Einfluss von Proteinen auf die DNA
»In den Genen liegt unser Schicksal«, hieß es noch vor 20 Jahren: Denn egal ob sich jemand kriminell verhalte, ob er hetero- oder homosexuell sei oder stark dem Alkohol zuneige – all dies werde vorrangig von seinen Erbanlagen bestimmt. Eingedenk der enormen Vielfalt des Menschlichen fielen auch die Schätzungen über die Zahl der menschlichen Gene anfangs recht hoch aus. Von 100 000 war die Rede, dann von 60 000. Dass es deutlich weniger sein könnten, hielt seinerzeit kaum ein Biowissenschaftler für möglich.
Die Überraschung in der Fachwelt war daher groß, als auf Grund neuer Studien die Zahl der menschlichen Gene auf 25 000 und schließlich auf rund 19 000 reduziert werden musste. Demnach hätte ein Mensch ungefähr so viele Gene wie eine Maus! Da zwischen beiden Säugetieren jedoch ein kaum übersehbarer Unterschied besteht, ist es offenkundig nicht allein die Summe der Gene, die einen Organismus ausmacht.
Welche Faktoren hierbei noch mitspielen, wird heute im Rahmen der sogenannten Epigenetik erforscht, zu deren Gegenständen auch die Wechselwirkung von DNA und Proteinen im Zellkern gehört. Denn damit der rund zwei Meter lange DNA-Faden in dem nur wenige Mikrometer »dicken« Zellkern überhaupt Platz findet, ist er wie bei einer Spule um spezielle Proteine (Histone) gewickelt. Dies geschieht allerdings nicht kontinuierlich. Es bilden sich vielmehr einzelne Verpackungseinheiten, die aus jeweils 147 Basenpaaren und acht Histonen bestehen und in den Chromosomen perlenförmig aneinandergereiht sind.
Lange dominierte in den Biowissenschaften die Auffassung, dass die Histone für nichts anderes zu sorgen hätten als für die Organisation und Stabilität der Erbsubstanz. Inzwischen weiß man jedoch, dass sie auch in die Genregulation eingreifen und darüber entscheiden, welche Gene in Proteine übersetzt werden und welche nicht. Denn damit sich aus Zellen, die alle über das gleiche Genreservoir verfügen, verschiedene Zelltypen (Nervenzellen, Muskelzellen etc.) entwickeln können, müssen die Gene darin unterschiedlich abgelesen werden.
Zur Lösung dieses Problems hat die Evolution einen ebenso einfachen wie wirkungsvollen Mechanismus erfunden: Entlang des DNA-Strangs werden »von außen« kleine chemische Anhängsel (Marker) angebracht, die einem Schalter gleich Gene an- oder ausknipsen können. Eine der häufigsten epigenetischen Veränderungen dieser Art ist die sogenannte Methylierung, die auch bei Histonen stattfindet. An diese binden dann chemische Methylgruppen und verändern die Histon-Struktur so, dass sich immer mehr Proteine anlagern. Dadurch wird verhindert, dass die verpackte DNA-Sequenz abgelesen werden kann.
Bislang war die Identität der an solchen Prozessen beteiligten Proteine weitgehend unbekannt. Nun jedoch hat eine Forschergruppe um Matthias Mann vom Max-Planck-Institut für Biochemie in Martinsried für die fünf wichtigsten Methylierungen Proteine identifiziert, die an veränderte Histone binden. Gelungen sei dies durch die Anwendung einer eigens dafür entwickelten Technik der quantitativen Massenspektrometrie, schreiben die Wissenschaftler im Fachblatt »Cell« (Bd. 142, S. 967) und hoffen zugleich, mit ihren Erkenntnissen neue medizinische Therapien anzuregen. Denn vieles deutet darauf hin, dass bei einigen Krebsarten die Methylierungsmuster der DNA (oder der Histone) verändert sind. Werden zum Beispiel Gene, die normalerweise die Zellteilung kontrollieren, methyliert und somit abgeschaltet, können sich nachweislich Tumore entwickeln. Schon vor einigen Jahren ist es Moshe Szyf von der McGill University in Montreal gelungen, derartige Methylierungen im Experiment zu blockieren und damit das Krebswachstum zu verhindern.
Überhaupt zeigt das Phänomen der Methylierung, dass Umwelteinflüsse zwar nicht die Gene selbst verändern, aber zumindest langfristig auf deren Funktion einwirken können. Denn eine einmal erfolgte Modifikation der epigenetischen Marker verschwindet bei der Zellteilung nicht sofort wieder und kann sogar über einige Generation vererbt werden.
Um diesen Prozess genauer zu studieren, haben Genetiker des Nationalen Spanischen Krebszentrums die DNA-Methylierungsmuster von eineiigen Zwillingen im Alter von 3 bis 74 Jahren miteinander verglichen. Dabei stellten die Forscher bei über 60 Prozent der Paare teilweise erhebliche Differenzen fest, die mit verschiedenen Umwelteinflüssen (Nahrung, körperliche Aktivitäten etc.) korrelierten. Besonders auffällig waren die Unterschiede bei Zwillingen, die schon frühzeitig getrennt wurden, wie Anabell und Gemma Molero aus Barcelona. Eines der Mädchen kam nach Mexiko, das andere nach England, so dass beide fortan völlig verschiedene Ess- und Lebensgewohnheiten entwickelten. Und obwohl Anabell und Gemma nach wie vor identische Gene besitzen, sind ihre DNA-Methylierungsmuster ebenso verschieden wie die Krankheiten, die sie im Laufe ihres Lebens hatten.
Manche Forscher meinen gar, dass die Epigenetik in gewisser Weise die Evolutionstheorie des französischen Zoologen Jean-Baptiste Lamarck bestätige. Denn der hatte behauptet: Individuell erworbene Eigenschaften werden in der Generationenfolge vererbt, was sich aber trotz intensiver Bemühungen nie zweifelsfrei nachweisen ließ. Auch die Epigenetik tauge nicht als Beleg für den Lamarckismus, sagt Thomas Jenuwein vom Max-Planck-Institut für Immunbiologie in Freiburg. Denn erstens gehe die epigenetische Information oft schon nach 20 bis 30 Zellteilungen innerhalb eines Organismus verloren. Und zweitens gebe es noch zu wenige Beispiele für umweltbedingte epigenetische Veränderungen, die vererbt werden. Dass es dennoch häufiger geschieht, sollte für Biologen gleichwohl kein Malheur, sondern Anlass sein, die Theorie der Evolution weiter zu vervollkommnen.
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