Suche nach der Utopie an der Seine
VI. Internationaler Marx-Kongress in Paris
Zum VI. Internationalen Marx-Kongress waren Forscher und Aktivisten aus der ganzen Welt eingeladen worden, um drei Tage lang über »Krise, Revolte und Utopie« zu diskutieren. Doch trotz symbolträchtigen Orts und einer europaweiten »Wir zahlen nicht für eure Krise«-Stimmung scheint die fundierte Befassung mit dem Vater der Krisenanalyse nur gedämpftes Interesse zu wecken: Die Zahl der Marx-Begeisterten in Nanterre blieb gering. Und der erste Konferenztag wurde auch gleich von der »Praxis« überrollt – Hunderttausende in ganz Frankreich protestierten gegen Sarkozys Rentenreform und unsoziale Politik.
Dass die »Barbarei« trotz aller Krisen gut verwaltet werden könne, legitimiere gerade die Revolte – so die Übereinstimmung auf dem Kongress. Wenn wirtschaftliche Rezession, geplatzte Spekulationsblasen und Ausbeutung von Natur und Mensch als Betriebsunfälle beschönigt würden, brauche es den Druck von unten, um dieser Logik entgegenzutreten. Griechische Aktivisten berichteten von den Abwehrkämpfen in Athen, wo gewerkschaftliche und anarchistische Mobilisierung gegen die Sparmaßnahmen Tausende auf die Straßen brachte. Französische Psychologen und Soziologen sprachen aber auch über alltägliche Erfahrungen wie die Prekarisierung von Lebensumständen, vor allem aber die in den Köpfen.
Danièle Linhart, Forschungsdirektorin am französischen Wissenschaftszentrum CNRS, beschrieb die verheerenden Auswirkungen innerbetrieblicher Ausbeutungsmechanismen. Bei den Menschen würden Angstgefühle und Unsicherheiten erzeugt und die Planziele hoch gesteckt. »Die Destabilisierung von Arbeitnehmern ist kein Nebeneffekt – sie ist das erklärte Ziel vieler großer Unternehmen.« Als Beispiel nannte sie die jüngste Selbstmordserie bei France Telecom. Selbstmorde wegen betrieblichen Psychoterrors seien in ganz Europa keine Seltenheit. Der einzige Ausweg aus dieser Spirale von existenzieller Angst und Abhängigkeit sei die Rekonstruktion der »kollektiven Intelligenz« und damit ein Prozess der »Wiederaneignung«, wie es die marxistische Soziologin nannte.
Dass man zur Revolte mehr denn je eine Utopie brauche, unterstrich der emeritierte Professor Michael Löwy, der sich Zeit seines Lebens mit Revolutions- und Freiheitstheorien beschäftigte. Löwy griff dieses Mal auf die durch die Klimabewegung wieder aufgeflammte Idee eines »Ökosozialismus« zurück, die für ihn einzig erstrebenswerte Gesellschaftsform und ein vernünftiger Ausweg aus dem herrschenden menschen- und umweltfeindlichen System.
Der Tauschwert – so Löwy – müsse wieder in den Gebrauchswert zurückgedacht werden. Die Produktivkräfte seien nicht »neutral«, sondern müssten erst durch die Diskussion des Volkes von unten her neu nach ihrer nachhaltigen Nützlichkeit befragt werden. Es müsse ein neues zivilisatorisches Paradigma geschaffen werden, um sich von der Herrschaft kleiner, dominierender Gruppen zu befreien, die nicht im Gemeininteresse, sondern nur in ihrem eigenen handeln würden.
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