Gulliver in Metropolis

»Realstadt – Wünsche als Wirklichkeit« ist die erste Ausstellung im neuen Kunstort »Trafo«

  • Tobias Riegel
  • Lesedauer: 3 Min.
Im »Trafo« verschmelzen Exponat und Umgebung. ND-
Im »Trafo« verschmelzen Exponat und Umgebung. ND-

Es ist ein Ort, an dem die Proportionen durcheinander geraten. Der Besucher schrumpft beim Betreten augenblicklich auf ein demütiges Maß. Denn das ehemalige Kraftwerk Mitte hat die Dimension einer Kathedrale und den rostigen, größenwahnsinnigen Charme eines »Alien«- oder »Metropolis«-Sets.

Dem zeitgleich mit der Mauer hochgezogenen ehemaligen Antrieb Ostberlins konnte kaum Besseres passieren, als von Dimitri Hegemann entdeckt zu werden: Der umtriebige Gründer des Nachwende-Techno-Clubs »Tresor« will die 22 000 Quadratmeter Industriedenkmal nicht nur behutsam behandeln, wobei er sich – gottlob – weigert, sie zu glätten. Er will sie außerdem zu einem neuen Kunstort für unterschiedlichste temporäre Kreativnutzungen machen. Damit schenkt er der Stadt einen rotzigen, überaus konkreten Vorläufer zur noch sehr theoretischen permanenten Kunsthalle Klaus Wowereits. Heute wird das verheißungsvolle Projekt in der Köpenicker Straße mit der Ausstellung »Realstadt – Wünsche als Wirklichkeit« eröffnet.

Und nun wollen die Proportionen erst recht nicht mehr passen. Denn ausgestellt werden 250 städtebauliche Architekturmodelle, die den Betrachter durch ihren filigranen Charakter wie Gulliver im Land der Liliputaner erscheinen lassen. Die vermeintlichen Riesen wiederum werden unter dem Dach des Kraftwerks zu Zwergen. Und die eigentlich umfangreiche Ausstellung, die aber nur einen Bruchteil der ausufernden Hallen, Gänge und Galerien bespielt, wird ebenfalls in ihrer Größe relativiert – ein anregendes und verwirrendes Spiel mit den Verhältnissen.

Das findet auch die Kuratorin der Ausstellung, Angelika Fitz. Außerdem wollte sie »auf jeden Fall den rauen Charme des 20. Jahrhunderts für die Schau«, erklärt die Wienerin. »Schon wieder Gründerzeit und Backstein hätten nicht zur Idee gepasst.« Die Idee der Exposition ist laut Fitz, eine »augenzwinkernde und subjektive Realstadt« zu zeigen. Es gibt keine Simulationen, Videos oder Fotos. Was hier zählt, ist Handarbeit mit Klötzchen und Kleber. Das meiste dabei ist unrealisiert, erklärt Fitz. In diesem, laut Kuratorin, »Spiel in großem Maßstab, das Stadtplaner jeden Tag spielen«, grenzt Berlin auch schon mal an München. Gezeigt werden soll das Allmachtsgefühl großer Player ebenso wie Utopien von Graswurzelbewegungen.

Ausgewählt wurden dabei nicht die schönsten Modelle, wie Fitz betont. »Gemeinsamer Nenner der Arbeiten sind die zum Ausdruck gebrachten Wünsche an eine Stadt.« Die thematische Beschränkung auf Deutschland ist einer Übersättigung an internationalen Architekturausstellungen geschuldet. »Schauen zur modernen Megacity gab es nun wirklich genug«, sagt dazu Martin Heller. Der Schweizer ist neben Angelika Fitz für das Konzept verantwortlich. Er will auch den Glauben dokumentieren, »dass mit genug Geld und guten Behörden Städte tatsächlich planbar sind«.

Kritische Kommentare werden dabei nicht ausgespart. So zeigt etwa Michael Birn in seinem Modell »Lustgarten 2057« ein von einer Skyline am Alexanderplatz überstrahltes Stadtschloss – mit Anschluss an ein verrottetes Shoppingcenter. Gleich nebenan ein realer Entwurf, der nie Wirklichkeit wurde: Die letzten Planungen der DDR für eben jenen Alex.

2. Oktober bis 28. November, täglich 10-20 Uhr, Eintritt 4/2 Euro, bis 18 Jahre und Studenten frei, »Trafo« im ehemaligen Heizkraftwerk Mitte, Köpenicker Straße 70, www.realstadt.de, Telefon: 030-60 98 85 75

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