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Enthauptung der Roten Armee
Vor 65 Jahren: Die Verhaftung von Tuchatschewski & Co.
Sie verdienen, für das Jahr 1920 aufgehängt zu werden.« Es sind böse Worte, die 1930 einer von Stalins Gefolgsleuten Michail Nikolajewitsch Tuchatschewski entgegenschleuderte. Der Vorwurf bezog sich auf den ein Jahrzehnt zuvor gescheiterten Angriff der Roten Armee auf Warschau, den Tuchatschewski geleitet hatte. Was wie ein Streit unter Militärs aussah, betraf jedoch grundlegende Machtstrukturen in der Sowjetunion.
Tuchatschewski, am 4. Februar 1893 in einer verarmten Adelsfamilie geboren, besuchte die Alexander-Militärschule in St. Petersburg und nahm als Oberleutnant am Ersten Weltkrieg teil. 1915 in deutsche Kriegsgefangenschaft geraten, gelang ihm nach viermaligem vergeblichen Versuch im August 1917 die Flucht in die Heimat. Dort schloss er sich Anfang 1918 der Roten Armee an. Schon bald mit hohen Führungsaufgaben betraut, kämpfte er an fast allen Fronten des Bürgerkrieges. Die von ihm befehligten Truppen schlugen sich erfolgreich gegen die Weißtschechen an der mittleren Wolga, gegen Koltschak im Ural und in Sibirien, auch gegen Denikin an der Kaukasusfront. Weil Budjonny, hinter dem Stalin und der spätere Volkskommissar für Verteidigung (1934-1940) Woroschilow standen, mit seinem Kavalleriekorps eine Weisung Tuchatschewskis missachtet und das rechtzeitige Zusammenwirken der Truppen verhindert hatte, konnte Denikin auf die Krim entkommen. Ähnliches passierte, als im August 1920 Tuchatschewski, damals Kommandierender der Westfront, den Sturm auf Warschau begann und eine Niederlage erlitt. Entgegen der Direktive des Oberkommandos waren die 12. Armee und die 1. Reiterarmee unter Budjonny bei Lwow festgehalten worden, so dass sie in der Warschauer Stoßrichtung in prekärer Situation nicht zum Einsatz kamen. Den Fehler hatte das für die Südwestfront zuständige Mitglied des Revolutionären Kriegsrates Stalin verschuldet, aber nach zehn Jahren stellten sich die Verantwortlichkeiten anders dar. Stalin befand sich auf dem Weg zum Diktator und bastelte an seinem Nimbus, auch ein großer Heerführer zu sein.
Tuchatschewski - der allerdings mit Trotzki auch den Kronstädter Aufstand 1921 niederzwang - hatte sich im Bürgerkrieg als talentierter, umsichtiger Armeeführer erwiesen. So machte er schnell Karriere. Von 1925 bis 1928 war er Chef des Stabes der Roten Armee und in dieser Funktion um den Aufbau einer starken Panzerwaffe sowie effektiver Luftstreitkräfte bemüht. In eben dieser Zeit arbeitete er am Zustandekommen einer engeren Zusammenarbeit von Roter Armee und deutscher Reichswehr mit, von der sich beide Seiten Nutzen versprachen. Mit Hitlers Machtantritt änderte sich Tuchatschewskis Haltung zu Deutschland, das er von nun an im Unterschied zu Stalin als den potenziellen Feind und Kriegsgegner Nr. 1 betrachtete.
1931 wurde Tuchatschewski Leiter des Rüstungswesens der UdSSR und damit verantwortlich für die waffentechnische Ausstattung und die nun verstärkt vorangetriebene Motorisierung der Roten Armee. 1935 erfolgte die Ernennung zum Marschall, im Frühjahr 1936 die Berufung auf den Posten des 1. Stellvertreters des Volkskommissars für Verteidigung, im Mai 1937 die plötzliche Degradierung zum Leiter des Militärbezirks Wolga und die anschließende Verhaftung.
Zwar bleibt im »Fall Tuchatschewski« noch manche Frage offen, doch scheinen Gründe und Anlass seiner ans Absurde grenzenden Absetzung und Festnahme klar zu sein. Am 16. Dezember 1936 erfuhr ein Mitarbeiter der deutschen Geheimdienste in Paris aus dem Munde des ehemaligen weißgardistischen Generals Skoblin, dass die sowjetische Armeeführung eine Verschwörung gegen Stalin vorbereite, an deren Spitze Tuchatschewski stünde. Diese Information wurde an Heydrich, den Chef des Sicherheitsdienstes der SS, weitergegeben. Der erkannte ihren einmaligen Wert sofort. In Stalins Händen würde sie, auch eingedenk der in der Sowjetunion grassierenden und geförderten manischen Spionageangst, eine zerstörerische Kraft entwickeln. Mit Sicherheit kämen Tuchatschewski und mit ihm andere höhere Offiziere, angeklagt wegen Meuterei und Landesverrat, vor ein Militärgericht. Ihre Verurteilung zum Tode wäre die Konsequenz. Außer den katastrophalen Folgen für die Schlagkraft der Roten Armee, dürfte Heydrich im Falle Tuchatschewskis auch das warnende Beispiel für deutsche, mit Hitler unzufriedene Militärs ins Auge gefasst haben.
In fieberhafter Tätigkeit wurden echte Dokumente und Fälschungen so zusammengestellt, dass sie Tuchatschewski schwer belasteten. Es gelang sogar, den tschechoslowakischen Präsidenten Edvard Bene und den französischen Ministerpräsidenten Edouard Daladier in diesem Komplott zu benutzen. Ohne zu ahnen, dass es sich um ein abgekartetes Spiel handelte, gaben sie die »durchgesickerten« Nachrichten an die sowjetischen Botschafter in Paris und Prag weiter. Schließlich kaufte Stalins Geheimdienst (NKWD) die gesamte Tuchatschewski-Akte für drei Millionen Rubel von Heydrichs Leuten. Sie wurde zum Ausgangspunkt für den Massenterror gegen das sowjetische Offizierskorps. Dass sie es werden konnte, erklärt sich in erster Linie aus Stalins Streben nach unumschränkter Alleinherrschaft. Systematisch hatte er bereits prominente Bolschewiki aus den Revolutionsjahren beseitigen lassen. Es war nur eine Frage der Zeit, wann Stalin mit den führenden Militärs »abrechnen« würde.
Da sie naturgemäß eine starke politische Kraft darstellten, betrachtete er sie als eine besondere Gefahr für seine Diktatur. In diesem Zusammenhang erhebt sich die Frage, ob nicht das NKWD mit Stalin im Hintergrund der Einflüsterer des Weißgardisten Skoblin war und damit auch Heydrich, der die »beweiskräftigen« Unterlagen lieferte, zu seinem und des Diktators Erfüllungsgehilfen gemacht hatte.
Ende Mai 1937 wurden Tuchatschewski und mit ihm die Kommandeure Jakir, Uborewitsch, Putna, Primakow, Kork, Eideman und Feldman verhaftet. Stalin befahl einen schnellen Prozess gegen die »niederträchtige konterrevolutionäre und militärfaschistische Organisation« - ohne Öffentlichkeit. Es folgten zwei Wochen Verhöre und grausamer Folterungen. Die »Verhandlung« am 11. Juni dauerte nicht lange. Kurz nach Mittag wurden die Todesurteile gefällt und Tuchatschewski noch am selben Tag erschossen. Die Gerichtsbeisitzer - Marschall Blücher, die Armeebefehlshaber Alksnis, Dybenko, Kaschirin und den Divisionskommandeur Gorjatschow - ereilte wenig später das gleiche Schicksal. Nur Budjonny und der damalige Chef des Generalstabes, Schaposchnikow, blieben unbehelligt, da sie die Gunst Stalins genossen.
Diese Morde waren der Auftakt zu einer Hexenjagd, der 80 Prozent der hohen und mehr als 50 Prozent aller anderen Offiziere zum Opfer fielen, sehr zum Schaden der UdSSR. Erbarmungslos offenbarte der so genannte Winterkrieg von 1939/40 gegen Finnland die Führungsschwächen der Roten Armee. Auch Heydrich sollte noch triumphieren. Als die deutsche Wehrmacht 1941 die Sowjetunion überfiel, musste das Land katastrop...
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