Reformfeindlich und politisch passiv
In Hamburg stimmten auch ärmere Stadtteile gegen die sechsjährige Primarschule
Was von der Reform übrig bleibt: Die Hamburger Bürgerschaft hat ein neues Schulgesetz beschlossen, das die Ergebnisse des verlorenen Volksentscheides vom Juli umsetzen soll. Alle Fraktionen von CDU, Grünen, SPD und Linkspartei stimmten dem Gesetz zu. Damit ist der zweijährige Streit um die Einführung der sechsjährigen Primarschule – dem Kern der Schulreform – vorerst beendet. Bei dem von der Initiative »Wir wollen lernen« angeschobenen Volksentscheid stimmten am 18. Juli 276 304 Bürger (22,1 Prozent) gegen die von allen Fraktionen befürwortete Primarschule, die die vierjährige Grundschule ersetzen sollte. Nur 218 065 (17,4 Prozent) von fast 1,3 Millionen Wahlberechtigten votierten für die Einführung der Schulreform. Eine schwere Niederlage, gerade wenn man bedenkt, dass die Mehrzahl der Wähler gegen den Vorschlag aller Bürgerschaftsparteien, von Gewerkschaften und Initiativen stimmten. Allerdings beteiligten sich nur 39,3 Prozent der Hamburger an der Abstimmung, rund 200 000 Nicht-Deutsche waren vom Urnengang ausgeschlossen.
»Damit haben etwa 20 Prozent der Hamburger Bevölkerung über die restlichen 80 Prozent entschieden und dominieren damit die Hamburger Schulpolitik«, kommentierte der pensionierte Schulleiter Wolfgang Dittmar und Reformbefürworter das Ergebnis des Volksentscheides. Zugleich formulierte er auch das Problem der Schulreformer: »Diejenigen, die von der Reform profitiert hätten, sind entweder nicht zur Wahl gegangen oder durften nicht.«
Das Ziel der Reform war es gewesen, an Stelle der frühzeitigen Auslese von Kindern nach der vierten Klasse ein längeres gemeinsames Lernen bis zur sechsten Klasse zu ermöglichen. Ein klarer Sieg hingegen für die Volksinitiative »Wir wollen lernen« und ihrem Sprecher, dem Rechtsanwalt Walter Scheuerl. Die Initiative erhielt vor allem Unterstützung von der FDP, der Jungen Union, der Handelskammer und den Springer-Medien. Das Ziel, den Erhalt des Gymnasiums ab der fünften Klasse und die Beibehaltung der Grundschule von Klasse eins bis vier, hatte die Volksinitiative erreicht.
Scheuerl und seine Initiative saß auch bei den Beratungen über das neue Schulgesetz mit am Tisch und wachte argwöhnisch darüber, dass das »gemeinsame längere Lernen« nicht doch noch durch die Hintertür eingeführt wurde. So wurde auf Druck der Initiative im Gymnasium die Beobachtungsstufe der Klassen 5 und 6 wieder eingeführt. Nach dem Willen der Reformer sollte dieses Selektionsinstrument abgeschafft werden, zudem sollte es bis zur 10. Klasse kein Sitzenbleiben mehr geben.
Streit gab es auch um den Bildungsauftrag des Gymnasiums. Nach der nunmehr gültigen Formel vermittelt das Gymnasium »eine vertiefte allgemeine Bildung«, während die neu eingeführte Stadtteilschule lediglich »eine grundlegende und vertiefte allgemeine Bildung« anbietet. Ursprünglich waren sich die vier Fraktionen darüber einig, dass der Bildungsauftrag für beide Schulformen lauten sollte, dass alle weiterführenden Schulen, »eine grundlegende und vertiefte allgemeine Bildung« vermitteln. Scheinbar ein obskurer Streit um Worte, der aber verdeutlicht, dass der Scheuerl-Initiative das Gymnasium als die eigentliche Bildungsinstitution im Lande gilt. In Hamburg legen die Gymnasiasten das Abitur nach der 12. Klasse ab, in den Stadtteilschulen erst nach der 13. Klasse. Ursprünglich hatte der CDU-Koalitionspartner, die Grün-Alternative Liste (GAL), ein neunjähriges gemeinsames Lernen gefordert (»Neun macht klug«), die Linkspartei fordert weiterhin »Eine Schule für alle», eine Position, die zumindest von Teilen der SPD befürwortet wird.
Die Frage stellt sich, ob unter dem Strich nicht doch noch etwas Positives von der ursprünglich beabsichtigten Reform übrig bleibt. »Das gemeinsame längere Lernen ist gescheitert«, räumt Pädagoge Dittmar ein. »Aber fast alle anderen Teile der Reform werden umgesetzt.« Dazu gehören die Verkleinerung der Klassenfrequenzen auf nur 19 in sozialen Brennpunkten und 23 in anderen Stadtteilen, die Abschaffung des Schulgeldes, die Einführung der Stadtteilschule – und damit das Aus für die Haupt- und Realschule - sowie eine stärkere Berufsorientierung.
Der verlorene Volksentscheid werfe für die Linke grundsätzliche Fragen auf, erklärt indes der Hamburger Bildungsexperte Horst Bethge (Linkspartei), zumal auch in ärmeren Stadtteilen mit hohem Anteil von Hartz-IV-Bezieherin die Reformbefürworter in der Minderheit waren oder gar nicht erst zur Abstimmung gingen. »Das Ergebnis hat auch bundespolitisch große Bedeutung«, schreibt Bethge in seiner Analyse und wirft die Frage auf: »Wie reformbereit ist die Oberschicht, wie reformfähig ist die BRD, selbst dann, wenn es um kleine technokratische und nachholende Modernisierung geht, die Privilegien ankratzt?« Bethge verdeutlicht, dass es den Reformgegnern vor allem gelungen ist, das eigene, bürgerliche Lager zu mobilisieren, dem es um den Erhalt des Bildungsprivilegs für seine Kinder gehe. So stimmten in Hamburgs reichstem Stadtteil Nienstedten (Jahresdurchschnittseinkommen je Steuerpflichtigen 150 000 Euro) 60 Prozent per Briefwahl ab – mehrheitlich gegen die Primarschule. In einem ärmeren Stadtteil wie Steilshoop mit rund 21 Prozent Hartz-IV-Beziehern war der Anteil der Briefwähler mit 30 Prozent gerade mal halb so groß. Weiterhin stimmten jene Steilshooper, die zur Wahl gingen, auch noch mehrheitlich gegen die Reform. Pädagoge Dittmar glaubt, dass die »unten« weitverbreitete Mentalität eine Rolle spiele, wonach »die da oben eh machen, was sie wollen«. Sowie der feste Glaube: »Es ändert sich soundso nichts.« Politische Apathie, die zur Erstarrung gesellschaftlicher Verhältnisse beiträgt.
Horst Bethge kritisiert allerdings, dass die Reformkräfte zu sehr gezaudert hätten, während das Bündnis »Wir wollen lernen« mit allen »harten Bandagen und allen, auch unsachlichen, juristischen und diffamierenden Mitteln« operiert habe. Der Volksinitiative sei es zudem gelungen, »latente Abstiegsängste der Mittelschicht, beim Bildungsbürgertum und bei etlichen Facharbeitern zu aktivieren und bis in die Urnen zu tragen«. Nicht nur die Oberschicht, sondern auch die Mehrheit der Mittelschicht habe gegen die Primarschule gestimmt – »getrieben von der Angst und Sorge, dass angesichts der Wirtschaftskrise und Massenerwerbslosigkeit die eigenen Kinder schlechtere Chancen haben würden, wenn man ihnen auch noch die Erwartung nehmen würde, durch den Besuch des Gymnasiums wenigstens bessere Arbeitsplatzchancen erreichen zu können.« Andere drückten das einfacher aus: Sie wolle eben nicht, dass ihr Sprössling in derselben Klasse sitze wie ein Migrantenkind, sprach eine Mutter aus den »besseren« Elbvororten in das Mikrofon eines Fernsehreporters.
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