»Wir sind alle bloß Menschen«
Das Berliner Projekt SToP kümmert sich um straffällige Jugendliche
Der Keller ist eng und stickig. Vier Jungs sitzen in dem winzigen Raum, ausgestattet mit einer Couch, zwei Stühlen und einem Tisch mit improvisierter Studiotechnik. Ein Beat schleppt sich durch den Raum, die Bässe lassen den Boden vibrieren. Vier Jungs kritzeln Zeilen auf ein Blatt. Sie fassen Gedanken in Worte, die zum Takt gesungen und gerappt werden sollen. Gemurmel und das Kratzen vom hastigen Durchstreichen liegen über dem grimmigen Beat. Der Sauerstoff hier unten ist längst verbraucht, geraucht wird nicht. Der Keller gehört zum »Tempodrama«, einem Musikcafé im Berliner Stadtteil Wedding.
Die Vier sind allesamt mehrfach angezeigt und verurteilt. Auf ihnen ruht der Blick von Önder Kurt, 30 Jahre alt und Sozialarbeiter. Eine Kooperation von Jugendhilfeprojekten hat dieses Treffen möglich gemacht.
Kennenlernen in der Heimatsprache
Önder Kurt wird von Hamsar herbeigewinkt. Ein kurzer Blick auf den Zettel, dann geht es los. Der 15-jährige rappt seinen soeben verfassten Text. Seine Stimme ist rau, sie passt zum dreckigen Beat. Der Text erzählt von Berlin. Es sind acht Zeilen, die letzte heißt »Wir sind alle bloß Menschen«. Die beim Rap obligatorischen Beleidigungen wie »Fick dich« oder »Bitch« (Hure) fehlen. Es geht um Versöhnung; wieder zur Besinnung zu kommen, das ist die Botschaft, denn zuviel läuft schief. Im Leben und auf der Straße.
Einige der Anwesenden haben keine gültige Aufenthaltserlaubnis. Sie wissen nicht, ob sie am nächsten Tag noch da sind. Die Jungs singen darüber, wie sie auf die schiefe Bahn und zum Teil in den Knast gekommen sind. Dinge, auf die sie keine Lust mehr haben.
Hamsar hat seinen Text als Erstes vorgetragen und zustimmendes Nicken aus der Runde erhalten. Er stammt aus Libanon und saß schon ein halbes Jahr im Jugendknast. »Wegen Überfällen«, wie er sagt. Er ist groß und breitschultrig, der Blick ist trotzig. Dieses Musikprojekt sei das Erste, was er durchzieht und wobei niemand zu Schaden kommt, so Hamsar. Seinen Text hat er im Gefängnis geschrieben. Er hat keinen Bock mehr auf Stress, mehr auf die Probleme, die sich auf der Straße ergeben. Er will »lieber Musik machen und keinen Ärger haben«.
Die Jungs rappen weiter. Önder Kurt erzählt flüsternd, dass es unter den vier Jungs drei verschiedene Nationalitäten gibt und es zum Anfang viel Zoff gab. Wegen der Abstammung und der Zugehörigkeit zum jeweiligen Kiez. Doch die gemeinsame Arbeit am Beat und an den Texten, die regelmäßigen Treffen – das alles hat ein Team geformt, das es auf der Straße wohl so nicht gegeben hätte, sondern nur bei SToP möglich war.
SToP – das heißt Soziale Taskforce für offensive Pädagogik. Unter dem Dach der zuletzt in die Schlagzeilen geratenen Treberhilfe Berlin wurde das Projekt für die Bezirke Neukölln, Mitte und Schöneberg im September 2008 gegründet. Seitdem konnten Dutzende »Fälle« bearbeitet werden. Fälle, das sind in der Sprache der Mitarbeiter Jugendliche, die auf die schiefe Bahn zu geraten drohen oder bereits geraten sind. Jungs, die schon sieben Straftaten oder mehr begangen haben und nicht älter als 15 sind. Es sind jene, die oft aufgegeben werden und über deren Delikte in Zeitungen berichtet wird.
Die meisten betreuten Jugendlichen stammen aus türkischen oder arabischen Familien, manche aus Osteuropa. Deutsche kommen so gut wie nicht vor, das ist auch so gewollt. Denn die Schwierigkeiten entstehen vor allem in der Schule, wegen fehlender Anerkennung oder eines ungesicherten Aufenthaltsstatusses. Letzteres ist ein exklusives Problem von Migranten.
Was es heißt, geduldet zu sein, nie wirklich hier zu sein, das ist für Deutsche nur schwer vorstellbar. Das Wort Integration wirkt da zuweilen eher wie eine Drohung: Integriert euch – oder ihr seid raus! Wer befürchten muss, mitsamt seiner Familie schon morgen abgeschoben zu werden, der blickt kritisch auf Eingliederungsdebatten deutscher Politiker.
Im Polizeijargon heißen die Jugendlichen »kiezorientierte Mehrfachtäter« kurz KoMt. Zu diesen wird gezählt, wer mehr als zehn Straftaten begangen hat. Schwellentäter – Jugendliche mit sechs bis acht Delikten – werden vom Jugendamt an das Projekt SToP vermittelt. Dessen Mitarbeiter nehmen innerhalb von drei Tagen Kontakt zur Familie des Jugendlichen auf.
Eine Einladung in die Räume des Projekts steht am Anfang der Betreuung. Hier finden die Angehörigen eine herzliche Atmosphäre vor. Tee dampft aus dem Kessel, ein großer orientalischer Teppich verziert eine weiße Wand. Gesprochen wird Arabisch, Türkisch oder Serbisch. »Dass jemand von offizieller Seite in ihrer Landessprache mit ihnen redet, ist für diese Familien oft eine völlig neue Erfahrung«, berichtet Önder Kurt. Er ist bei fast jedem Erstgespräch dabei. Ermahnung oder Maßregelung ist nicht der Auftrag, sondern ein lockeres Gespräch, in dem die Mitarbeiter etwas über die Situation zu Hause erfahren möchte.
Positive Resonanzen gibt es so gut wie immer. Die Erleichterung der Eltern ist groß. Nur ein Mal verweigerte ein Vater den Kontakt. »Eine Mutter sagte uns freudestrahlend, das wir ihren Jungen wie einen Bruder behandeln«, erzählt SToP-Mitarbeiterin Funda Peker. Die Türkin ist in Berlin groß geworden und kennt als Bewohnerin eines Problemkiezes im Wedding die Sorgen der Kids auf der Straße. Welche Probleme sich ergeben, wenn die Eltern kein Deutsch sprechen und die Lehrer kapitulieren, erfahren die Mitarbeiter von SToP jeden Tag.
Bis heute sind 61 junge Menschen durch die Hände von SToP gegangen, mit einer hohen Erfolgsquote. Keiner der Jugendlichen bekam seit der etwa sechs Monate dauernden Betreuung noch eine Anzeige, sagt Önder Kurt. Was ist das Geheimnis? »Wir sprechen ihre Sprache. Wir sagen Ihnen: ›Wenn du weiter Scheiße baust, bist du für immer weg.‹ Das zieht.« Die Mitarbeiter von SToP seien oftmals die Ersten, die Worte wie »Glaub an dich« oder die Frage »Was willst du in deinem Leben erreichen?« an die Jugendlichen richten.
Neben der Sprache hat SToP einen weiteren wesentlichen Vorteil. Während eine Mitarbeiterin im Jugendamt gleichzeitig mit 200 bis 300 Fällen beschäftigt ist, bearbeiten die fünf Mitstreiter von SToP 15 bis 20 Fälle parallel. Die Affäre um den ehemaligen Geschäftsführer der Treberhilfe, Harald Ehlert, hat den Berliner Senat, der die Mittel für SToP bereitstellt, unter Zugzwang gesetzt, die einzelnen Projekte auf Sparsamkeit und Effektivität zu prüfen. Damit steigt der Druck auf SToP, mehr Fälle gleichzeitig zu bearbeiten, wie ein Mitarbeiter bestätigt. Für 2011 sind die Gelder gesichert.
Vielerlei Hilfe und eine Bedingung
Für die Jugendlichen gibt es bei SToP eine Bedingung: Wir helfen dir, und du machst keinen Unsinn! Die halten sich daran. Auch sollen sie sich vom bisherigen Freundeskreis fernhalten. Es gibt einen Vertrauensvorschuss, eine weiße Weste von vornherein.
Aber es gibt nicht nur knallharte Ansagen. SToP vermittelt Hausaufgabenhilfe oder veranlasst einen Schulwechsel. Bei musikalischem oder sportlichem Interesse werden Kontakte zu einem Tonstudio hergestellt oder der Halbjahresbeitrag für die Mitgliedschaft in einem Sportverein bezahlt. Ein HipHop-Musikvideo mit dem Titel »Neuanfang«, das von SToP produziert und von ehemaligen Klienten eingespielt wurde, zählte bereits über 9000 Besucher beim Internetportal YouTube.
Oft ist die Hilfe ziemlich unkompliziert und dazu kostenlos. Zwei zerstrittene Parteien müssen an einen Tisch gebracht werden oder der Cousin, der in der gleichen Straße lebt, wird zur Mitarbeit überredet. »Manchmal ist es ganz offensichtlich, wie ein Problem gelöst werden kann. Doch nur ein Anstoß von außen kann die Sache in Gang bringen“, berichtet Funda Peker.
Wie bei Valentino. Der heute 16-Jährige floh mit seiner Mutter vor dem Krieg aus Bosnien, da war er zwei. Der Vater blieb dort. Die Mutter hatte einen Freund, der den Jungen nicht akzeptierte. Es folgten 14 Jahre bei der Oma, viel Zeit auf der Straße, Gewalt. Ein Problem jagte das nächste. Nach einer Woche Jugendarrest und elf Anzeigen musste sich etwas ändern. Dabei half SToP. Bei Provokationen nicht sofort zuzuschlagen, das war der erste Ratschlag, den er annahm. Nach einem halben Jahr ist er nun von Anzeigen frei. Im September beginnt er eine Ausbildung im Rahmen des europäischen Programmes »Produktives Lernen«. Nur sein Bruder macht ihm Ärger. »Der prügelt sich wegen jedem kleinen Anlass«, sagt Valentino. »Aber davon werde ich davon abbringen.«
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