Neues NATO-Konzept vor der Verabschiedung
Bisher wird das Dokument streng vertraulich behandelt
Experten unter Leitung der früheren US-Außenministerin Madeleine Albright hatte die Vorarbeit geleistet. Die unterschiedlichen Interessen der Paktmitglieder verzögerten die Arbeit jedoch stets aufs Neue. Erst kürzlich wurden dem NATO-Generalsekretär Ergebnisse vorgelegt, die Anders Fogh Rasmussen – wie er betonte – in eine lesbare Fassung von zehn Seiten komprimiert hat. Das Ergebnis wurde den Mitgliedstaaten Ende September ausgehändigt. Die Minister sollen jetzt den Feinschliff vornehmen, bevor ein NATO-Gipfel in Lissabon die Konzeption Mitte November verabschiedet.
Die NATO-Spitze behandelt das Papier bisher streng vertraulich. Der Text wurde nicht publiziert, bohrende Fragen wurden bisher nur oberflächlich beantwortet. Man wolle in dieser delikaten Phase keine Einblicke in das unterschiedliche Herangehen einzelner Mitglieder ermöglichen, hieß es.
Dabei soll das neue Konzept dem Vernehmen nach keineswegs sensationelle Einschnitte gegenüber bisherigem Vorgehen der NATO vorsehen. Die gemeinsame Verteidigung (also die Bestätigung als exklusives Militärbündnis) bleibe Kernaufgabe der Allianz. Die Beschränkung auf das eigentliche Vertragsgebiet ist längst aufgehoben. Einsätze wie der in Afghanistan und die Einbeziehung von Nichtpaktstaaten in NATO-Aktionen werden gerechtfertigt. Auch der Beitritt weiterer Staaten in das Bündnis wird prinzipiell als möglich bezeichnet.
Erweitert werden soll der Kreis der Probleme, die für die NATO-Staaten künftig Priorität erhalten: Neben der Aufgabe, den Krieg in Afghanistan zu beenden, werden Bereiche wie der Kampf gegen den Drogenhandel und gegen die Piraterie am Horn von Afrika sowie die Verhinderung der Weiterverbreitung von Kernwaffen genannt. Besonderes Gewicht wird auf die Schaffung eines Raketenabwehrsystems in Europa gelegt.
Schwierigkeiten bei der Ausarbeitung der Konzeption ergaben sich nicht zuletzt aus unterschiedlichen Auffassungen zur Stellung der NATO zu Russland. Zwar zeigten die Prozeduren bei der Gestaltung der Konzeption ein gewisses Eingehen auf russische Befindlichkeiten. So wurde Moskau in Debatten über den Text einbezogen. Versichert wird auch, dass Russland an den Planungen für ein Raketenabwehrsystem beteiligt werden soll. Die russische Seite wurde eingeladen, am Gipfel in Lissabon teilzunehmen. NATO-Kreise äußern die Hoffnung, dass Präsident Dmitri Medwedjew persönlich die Delegation leitet. Als Form könnte man sich eine Sondertagung des NATO-Russland-Rates vorstellen.
Aber es gibt in der NATO auch Befürchtungen, dass Russland einen zu starken Einfluss auf Entscheidungen des Pakts bekommen könnte. Das resultiert vor allem aus dem Vorschlag Medwedjews, einen neuen verbindlichen europäischen Sicherheitsvertrag abzuschließen, der die Ungleichheit der europäischen Staaten in Bezug auf die Garantie ihrer Sicherheit beseitigen soll. Diese Zielsetzung wird im Westen als Versuch gewertet, die NATO durch ein Sicherheitssystem zu ersetzen, in dem Russland ein gewichtigeres Wort mitzureden hätte.
Es ist dem insgesamt verbesserten internationalen Klima zu verdanken, dass sich der Westen trotz seiner Zweifel einverstanden erklärt hat, über den Medwedjew-Vorschlag zu verhandeln. Das soll unter anderem auf einer Gipfelkonferenz der OSZE geschehen, die Anfang Dezember in Astana, der Hauptstadt Kasachstans, stattfindet. Allerdings wird dieses Thema nicht das einzige sein, das zur Sprache kommt. Bei den Vorbereitungen auf Astana werden zahlreiche weitere Probleme genannt. Das mindert die Chancen für das russische Projekt erheblich.
Gemäß Vorstellungen aus dem Auswärtigen Amt könnten bestenfalls Verhandlungen über die Ausarbeitung einer neuen OSZE-Charta eingeleitet werden (ein Prinzipiendokument, nicht aber ein rechtsverbindlicher Vertrag). In die gleiche Richtung gehen Überlegungen des amtierenden OSZE-Vorsitzenden, Kasachstans Außenminister Kanat Saudabajew, der vom Gipfel in Astana die Einleitung eines Prozesses der Festigung einer einheitlichen Euro-Atlantischen und Eurasischen Region erwartet.
Das alles wäre nicht wenig, entspräche aber nicht den weitergehenden russischen Überlegungen. Dennoch könnten von der Einrichtung eines dauerhaften Dialogstranges Impulse für die künftige Gestaltung der europäischen Sicherheitslandschaft ausgehen. Diese Tendenz könnte gestärkt werden, wenn vom ersten OSZE-Gipfel seit elf Jahren das Signal für einen neuen Vertrag über konventionelle Abrüstung in Europa ausgehen würde. Das entspräche – wie man weiß – russischen Interessen. Aber auch in Brüssel denkt man an ein solches Vorgehen.
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