»Dann muss ich entschieden protestieren«

Wie Willy Kerff in die Fänge des NKWD geriet und seinen Peinigern trotzte

  • Alexander Vatlin
  • Lesedauer: 7 Min.
Willy Kerff, 1887 bei Aachen geboren, trat 1918 der USPD und 1920 der KPD bei. Er war Sekretär der Landabteilung des ZK der KPD sowie im kommunistischen Bauernbund tätig und gehörte von 1924 bis 1933 dem Preußischen Landtag an. In Nazideutschland in Haft, wurde er nach seiner Emigration in der Sowjetunion erneut verhaftet. 1947 übersiedelte er nach Ostdeutschland. Die Bekanntschaft mit Ulbricht und Pieck war sowohl Schutzschild als auch Türöffner. Von 1952 bis 1960 war Kerff stellvertretender Direktor des Instituts für Zeitgeschichte der Akademie der Wissenschaften der DDR. Über seine Erlebnisse in Stalins Sowjetunion schwieg er bis zu seinem Tod 1979.
Willy Kerff, 1887 bei Aachen geboren, trat 1918 der USPD und 1920 der KPD bei. Er war Sekretär der Landabteilung des ZK der KPD sowie im kommunistischen Bauernbund tätig und gehörte von 1924 bis 1933 dem Preußischen Landtag an. In Nazideutschland in Haft, wurde er nach seiner Emigration in der Sowjetunion erneut verhaftet. 1947 übersiedelte er nach Ostdeutschland. Die Bekanntschaft mit Ulbricht und Pieck war sowohl Schutzschild als auch Türöffner. Von 1952 bis 1960 war Kerff stellvertretender Direktor des Instituts für Zeitgeschichte der Akademie der Wissenschaften der DDR. Über seine Erlebnisse in Stalins Sowjetunion schwieg er bis zu seinem Tod 1979.

Unter den Papieren, die Georgi Dimitroff am 19. Juni 1939, einen Tag nach seinem Geburtstag, auf seinem Schreibtisch in Barwicha vorfindet, ist ein Brief der Kaderabteilung des Exekutivkomitees der Komintern, der eine ungewöhnliche Bitte enthält und beim Generalsekretär Erinnerungen an längst vergangene Zeiten weckt. Dimitroff wird gebeten, seine Meinung über das »Verhalten von Willy Kleist (Kerff) während des Leipziger Prozesses« mitzuteilen. Die Kaderleute erkundigen sich nicht aus purer Neugier, sondern »aufgrund einer Nachfrage der entsprechenden Organisation«. Sogar in der internen Korrespondenz versuchen die Mitarbeiter auf die Verwendung des Kürzels NKWD zu verzichten.

Dimitroffs Fürsprache

Der Chef der KI erinnert sich an die Ereignisse im Herbst 1933. Polizisten führten den aus dem KZ Sonnenburg nach Leipzig überstellten Wilhelm Kerff in den Sitzungssaal des Reichsgerichtes. Kerff bestritt, den Angeklagten van der Lubbe zu kennen und erklärte, dass Kommunisten nichts mit Brandstiftern gemein haben. Entgegen seiner Angewohnheit, kurze Anordnungen zu notieren, schreibt Dimitroff auf den Brief: »Kleist, Willy (Kerff) hielt sich in seiner Eigenschaft als Zeuge auf dem Leipziger Prozeß gut. Die ihm gestellten Fragen politischen Charakters beantwortete er richtig und mutig, die KP Deutschlands verteidigend«. Dimitroff weiß, dass Kerff wie hunderte andere deutsche Kommunisten wegen »Staatsverbrechen« in Untersuchungshaft in der Lubjanka, dem Sitz des NKWD, sitzt.

Des Bulgaren Fürsprache ist erfolgreich. Am 27. August 1939 wird Kerff alias Kleist entlassen, sein Fall eingestellt. Seine Strafakte zeigt am konkreten Beispiel, wie das Stalinsche Regime funktionierte und wie sich Menschen verhielten, die in die Mühle des »Großen Terrors« geraten waren.

Unmittelbar nach dem Reichstagsbrand vom 27./28. Februar 1933 von der Gestapo verhaftet, war Kerff anderthalb Jahre in Deutschland inhaftiert. Während der Verhöre in der Lubjanka berichtete er, dass die illegale Fraktion der KPD im KZ Sonnenburg den Reichstagsbrandprozess gegen Dimitroff und Genossen in der Zeitung verfolgte und wie er sich auf seinen Auftritt als Zeuge vorbereitet hatte.

Im September 1934 war er aus dem KZ entlassen worden. Die Untersuchungsführer im NKWD glaubten, dass dies nur geschah, um anderen eine Falle zu stellen. Diese Entlassung passte so gar nicht in das von der sowjetischen Propaganda gezeichnete Bild vom »Dritten Reich«: Die Nazis konnten doch nicht so dumm sein, ihre politischen Gegner wieder aus ihren Klauen zu lassen. Genosse Stalin würde niemals einen solchen Fehler begehen …

Kerff musste während der Verhöre in der Lubjanka immer wieder erklären, dass es damals in Deutschland durchaus noch Massenentlassungen gegeben hat. Und jeder Entlassene ein Papier mit der Erklärung unterschreiben musste, dass er sich nicht mehr staatsfeindlich betätigen wird. Obwohl es einen speziellen Beschluss der illegalen Leitung der KPD gegeben hatte, der dies explizit billigte, wurde die Unterschrift für viele deutsche Kommunisten in der UdSSR zum Verhängnis – vom NKWD ausgelegt als Bereitschaftserklärung, mit der Gestapo zusammenzuarbeiten.

Im Sommer 1935 emigrierte Kerff zunächst in die Tschechoslowakei und von dort in die Sowjetunion, wo gerade der VII. Kongress der Komintern stattfand, der Kurs auf die antifaschistische Volksfront nahm. Mit der neuen Linie übernahmen neue Kader die Führung in der KPD, unter ihnen Wilhelm Pieck und Walter Ulbricht, die Kerff noch aus der Weimarer Republik gut kannte.

Kerff erhielt nun neue Papiere auf den Namen Willy Kleist, bezog in Moskau ein Hotelzimmer und eine Funktion im Apparat zugewiesen. Im Antrag auf sowjetische Staatsbürgerschaft vom 15. Dezember 1936 schrieb er: »Ich bejahe ohne Vorbehalt die Stalinsche Verfassung der UdSSR. Meine Überzeugung ist, dass keine bessere, fortschrittlichere und freiheitlichere Verfassung als die der UdSSR existiert und daß sie in der Sowjetunion die Entwicklung von der sozialistischen zur kommunistischen Gesellschaftsordnung gewährleistet.«

Auch das Familienleben kam in geregelte Bahnen. Seine erste Frau, von der er lange geschieden war, heiratete einen anderen KPD-Funktionär, Hans Kippenberger. Mit ihm zusammen wurde sie im November 1936 verhaftet. Kleist heiratete im Frühjahr 1936 Antonina Shilkina, eine einfache russische Arbeiterin, die bereits eine Tochter hatte. Mit Hilfe der KI gelang es Kleist, seinen zwölfjährigen Sohn Ludwig nach Moskau zu holen. Er lebte mit den Seinen im überfüllten Haus der Politemigranten, das sich jedoch bald zunehmend leerte.

Dittbenders Geständnis

In der Nacht zum 23. März 1938 wurden im Zuge der sogenannten »Deutschen Operation« des NKWD die letzten vier männlichen Politemigranten aus dem Heim verhaftet, darunter Kleist. In seinem Haftbefehl waren Kontakte zu bereits Inhaftierten als Grund für die Festnahme angegeben worden. Sehr schnell jedoch wurde den Mitarbeitern der Kreisdienststelle des NKWD klar, was für einen »dicken Fisch« sie an der Angel hatten. Die Untersuchungsakte wurde an die 3. Abteilung der Verwaltung des NKWD des Moskauer Gebiets geschickt. Hier fügte man Kleist in das Konstrukt einer »trotzkistischen Verschwörung in der deutschen Sektion der Komintern« ein. Die Hauptrollen in diesem perfiden Szenario waren Theodor Beutling und Walter Dittbender zugewiesen worden; nach wochenlanger Tortur hatten sie »gestanden«.

Kleist weigerte sich, selbstbelastende Aussagen zu machen. Ihm kamen die Erfahrungen zu Gute, die er im faschistischen KZ gesammelt hatte. Die Untersuchungsführer des NKWD konfrontierten ihn mehrfach mit bereits gebrochenen Genossen. Mit Dittbender hatten sie zuvor eingeübt, was er in der Gegenüberstellung mit Kleist zu sagen habe. Man kann sich dessen Schock vorstellen, als er aus Dittbenders Munde vernahm: »Ich habe Kleist vorgeschlagen, sich im Haus der Politemigranten, im Hotel ›Baltschug‹ und im ZK der MOPR um neue Kader für trotzkistisch-terroristische Gruppen zu kümmern. Diese Aufgabe hat Kleist zur Zufriedenheit erfüllt.«

Ja, in schwierigen Lebenssituationen hatte sich Kleist an Dittbender in dessen Eigenschaft als Vertreter der Internationalen Roten Hilfe (MOPR) gewandt und um finanzielle Unterstützung gebeten. Nun wurde jeder erhaltene Rubel als Lohn für Spionagedienste und Terroristenausbildung umgedeutet. Dittbender hielt sich an die ihm eingebleute Rolle: »Ich empfehle Kleist noch einmal, seinen Kampf gegen die sowjetische Untersuchungsführung einzustellen und zu gestehen, denn unsere gesamte konterrevolutionäre Organisation ist durch die Organe des NKWD enttarnt und der einzige Ausweg aus diesem konterrevolutionären Dreck ist die offenherzige Anerkennung seiner Schuld gegenüber der Sowjetmacht.«

Kleist ging nicht in die Knie. Er wusste um seine Unschuld. Wenn man der Lüge nachgibt, gibt man die Selbstachtung auf. Und eventuell Genossen dem Untergang preis. Kleist beharrte auf seiner Version.

Kleists Eingaben

Mit dem Ende der »Jeshowschtschina«, wie die Periode des Großen Terrors unter dem NKWD-Chef Nikolai I. Jeschow genannt wird, widerriefen viele Angeklagte ihre unter Folter erpressten »Geständnisse«. Zu ihnen gehörte auch der Abgeordnete des Preußischen Landtages Paul Schwenk. Am 2. Dezember 1938 gab er zu, seinen Genossen verleumdet zu haben: »Kleist kann ich als außerordentlich ehrlichen Menschen einschätzen, der viel für die Kommunistische Partei getan hat.« Das Konstrukt einer angeblichen Antikomintern-Verschwörung drohte wie ein Kartenhaus zusammenzufallen. Um es aufrechtzuerhalten, begann die Leitung der 3. Abteilung der Verwaltung des NKWD jene Angeklagten »abzustoßen«, die keine Schuld eingestanden hatten. Am 28. Januar 1939 trennten sie den Fall Kleist ab.

In die Freiheit entlassen wurde er jedoch nicht. Kleist verfasste Eingaben, in denen er seine kluge Verteidigungsstrategie beibehielt: kein Zweifel an der Richtigkeit der Politik der Repressalien, keine Ausfälle gegen die Untersuchungsführer, aber auch kein Nachgeben, was das Beharren auf der eigenen Unschuld betraf. Am 15. Juni 1939 schrieb er an den Untersuchungsführer: »Seit fast 15 Monaten befinde ich mich im Gefängnis. Meine Meinung über den Verhaftungsgrund ist Ihnen bekannt. Sie ist unverändert: Wenn diese Verhaftung wegen innerer und äußerer Ursachen Teil allgemeiner Maßnahmen der Sowjetunion ist, die sich gegen Emigranten richten, dann bin ich als Kommunist politisch gebildet genug, um das zu verstehen und mich sogar damit abzufinden, obwohl diese 15 Monate in moralischer und psychologischer Hinsicht die schwersten in meinem Leben waren. Wenn meine Verhaftung jedoch auf der Grundlage der Annahme erfolgte, dass ich auf irgendeine Weise ein Verbrechen gegen die Interessen der Sowjetunion, der Kommunistischen Internationale und der KPD begangen habe, dann muß ich entschieden gegen meine Verhaftung protestieren.«

Dieser Brief war der letzte und ausschlaggebende. Die nunmehrige Anfrage an die Komintern war so formuliert, dass klar war, es sollte entlastendes Material geboten werden: Kleists Verhalten im Reichstagsbrandprozess. Die Kaderabteilung des EKKI und Dimitroff haben dies richtig gedeutet.

Der Willy Kerff war einer der ersten und einer der wenigen deutschen Opfer des Großen Terrors, die aus der Haft entlassen wurden. Wieder in Freiheit, kam er jedoch nicht über das Erlittene hinweg – zeitlebens nicht.

Im Rahmen eines vom Deutschen Historischen Institut in Moskau geförderten Forschungsprojektes untersucht Alexander Vatlin, Professor an der Lomonossow-Universität, das Schicksal Deutscher, die in den Jahren 1936 bis 1938 in Moskau Opfer des Stalinschen Terrors wurden. Unter den bisher erfassten 800 Personen finden sich Parteifunktionäre wie einfache Arbeiter, antifaschistische Widerstandskämpfer und Künstler. Stellvertretend für sie alle seien auf diesen beiden Seiten zwei Schicksale von Menschen vorgestellt, die das Glück hatten zu überleben, die gar beizeiten aus der Haft entlassen wurden. Man könnte es ein Wunder nennen, doch deren Entlassung verdankte sich letztlich deren eisernem Willen, sich nicht in die Opferrolle zu fügen, sondern gegen die Lüge anzukämpfen.
Im Rahmen eines vom Deutschen Historischen Institut in Moskau geförderten Forschungsprojektes untersucht Alexander Vatlin, Professor an der Lomonossow-Universität, das Schicksal Deutscher, die in den Jahren 1936 bis 1938 in Moskau Opfer des Stalinschen Terrors wurden. Unter den bisher erfassten 800 Personen finden sich Parteifunktionäre wie einfache Arbeiter, antifaschistische Widerstandskämpfer und Künstler. Stellvertretend für sie alle seien auf diesen beiden Seiten zwei Schicksale von Menschen vorgestellt, die das Glück hatten zu überleben, die gar beizeiten aus der Haft entlassen wurden. Man könnte es ein Wunder nennen, doch deren Entlassung verdankte sich letztlich deren eisernem Willen, sich nicht in die Opferrolle zu fügen, sondern gegen die Lüge anzukämpfen.

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