»Zehn Prozent erreichen wir nicht«
Kreuzberg bildet weitere Stadtteilmütter aus, um sich Problemfamilien anzunähern
Sie ist die einzige, die spontan ans Mikrofon tritt, eine zierliche Frau Mitte 30. Sie hat sich chic gemacht für diesen Tag mit einem Kopftuch aus Seide, einem langen schwarzen Rock und hübscher Bluse. »Ich dachte, ich kenne mich in Kreuzberg aus», sagt Hiranur Gül* ins Mikrofon. »Aber das war nicht so.« Es ist ein besonderer Tag für sie. Hiranur Gül trägt einen roten Schal um den Hals und eine weiße Umhängetasche. Es sind unauffällige Symbole, an denen sie in Kreuzberg dennoch jeder Eingeweihte erkennen kann: Hiranur Gül, Deutschtürkin, in Berlin geboren und aufgewachsen, ist jetzt Stadtteilmutter.
Gül ist eine von 20 Stadtteilmüttern, die an diesem Tag ihr Zertifikat bekommen. Sechs Monate lang haben sie dafür beim Diakonischen Werk Kurse über Kindererziehung, Gesundheit und Sprachförderung besucht. Alle Frauen haben ausländische Wurzeln, viele sind in zwei Kulturen aufgewachsen und wissen, was dieser Spagat bedeutet. Am Rednerpult steht nun Monika Herrmann, Kreuzbergs Jugendstadträtin.
Sie beschönigt nichts. Herrmann weiß, dass Kreuzberg kein einfaches Pflaster ist. Es gibt hier Stadtviertel, die im Sozialstrukturatlas in tiefem Orange ausgewiesen sind. Orange steht für 60 bis 80 Prozent Jugendliche mit ausländischen Wurzeln, dazu für überdurchschnittlich viele Hartz-IV-Empfänger und Aufstocker, die trotz Arbeit nicht genug Geld zum Leben haben. Kreuzbergs Armutsquote liegt bei 18 Prozent.
Grenzen setzen
Von der Arbeit der Stadtteilmütter in solch sozial schwachen Kiezen ist Stadträtin Herrmann überzeugt. Wenn das Jugendamt Problemfamilien nicht mehr erreicht, vielleicht schafft es eine Stadtteilmutter von Frau zu Frau. Jemand, der die gleiche Sprache spricht, Lebensgewohnheiten und kulturelle Unterschiede kennt. Vielleicht ist das aber auch nur ein schöner Traum. Das Modell findet immerhin bundesweit Nachahmer.
Die neue Generation von Stadtteilmüttern schwärmt nun in Kreuzberger Schulen, Kitas und Familiencafés aus. Sie werden Vorträge halten, persönliche Gespräche anbieten und Tipps geben: warum drei Jahre Kita so wichtig sind und auch die Elternabende in der Schule, warum Kinder vor Mitternacht ins Bett gehören und Eltern dringend Grenzen setzen müssen.
60 Stadtteilmütter gibt es heute in Kreuzberg, der Bezirk bezahlt ihre Ausbildung. Es ist nicht leicht, Frauen zu finden, die perfekt ins Konzept passen, aufgeschlossen, teamfähig, mit guten Deutschkenntnissen, eigenen Kindern und dem gemeldeten Status arbeitslos oder Hartz-IV-Empfänger. Der finanzielle Anreiz ist gering: Eine Stadtteilmutter verdient 1,50 Euro in der Stunde.
Hiranur Gül sitzt wenige Wochen später im Schulcafé der Hunsrück-Grundschule, nicht weit vom Görlitzer Bahnhof. 62 Prozent der Kinder hier sprechen Deutsch nicht als Muttersprache. Es ist kurz nach acht. Die Stadtteilmütter warten mit ihren vorbereiteten Referaten auf türkische und arabische Mütter, die ihre Kinder zur Schule gebracht haben. Doch es kommen zwei deutsche Frauen, überzeugte Vertreterinnen eines Multikulti-Kreuzberg. Sie berichten, was ihnen so durch den Kopf geht, seit ihre Kinder hier zur Schule gehen. Und plötzlich klingt es wie eine schleichende Desillusionierung in Sachen Multikulti.
»Mein Sohn spricht jetzt dieses Kiezdeutsch und sagt: Mach den Fernseher zu«, berichtet die eine. »Die Kinder können sich hier sprachlich nicht gegenseitig erziehen, sie machen es nur schlimmer.« Vor kurzem sei ein türkisches Mädchen in die erste Klasse gekommen, nach zweieinhalb Jahren in der Kita. Sie habe kein Wort Deutsch gekonnt. Briefe an die Mutter hätten nichts genutzt. »Vielleicht kann sie nicht lesen«, sagt Hiranur Gül. Die beiden deutschen Mütter schauen sie überrascht an. Daran haben sie nicht gedacht.
Fehlender Austausch habe viele Gründe. Kontakt, sagen die Stadtteilmütter, sei noch nicht einmal unter Türkinnen immer erwünscht und bei Araberinnen sei es noch schwieriger. Manche hätten einfach Angst, dass ihre Familien sie für Versagerinnen hielten, wenn sie sich woanders Erziehungstipps holten. »Rund zehn Prozent der Mütter erreichen wir einfach nicht», sagt Gül. »Leider sind es ausgerechnet die, die es am nötigsten haben.«
Mit 16 verheiratet
Hiranur Gül hatte nie Illusionen über Multikulti. Sie ist in Tempelhof zur Schule gegangen, war die einzige Türkin in der Klasse. Die Eltern sprachen zu Hause nur Türkisch. Zu Beginn der ersten Klasse beherrschte Gül kaum ein Wort Deutsch. Doch sie hatte eine engagierte Lehrerin, holte schnell auf. Bald gehörte sie zu den Klassenbesten. »Da fing das Mobbing an«, erinnert sie sich. »Schleimer und Streber haben sie zu mir gesagt.«
Am Ende der sechsten Klasse empfahl die Lehrerin eine Gesamtschule. Die zwölfährige Hiranur schleifte ihren widerstrebenden Vater zur Anmeldung. Es war das erste Mal, dass er eine deutsche Schule betrat. »Er hatte nie Zeit. Er hat Schicht gearbeitet, 35 Jahre lang. Er hat nie einen Cent vom Staat gebraucht«, verteidigt ihn Gül.
Hiranur Gül ist heute die einzige in ihrer großen Familie, die einen Schulabschluss hat. Fast hätte es mit der zehnten Klasse nicht geklappt, aber nicht wegen ihrer Noten. Als Hiranur 16 war, verheiratete ihre Mutter sie mit einem zwölf Jahre älteren Mann aus der Türkei. Gül wollte noch nicht heiraten. Sie tat es aus Respekt vor ihren Eltern. Und unter einer Bedingung: Dass sie die Schule fertig macht. Wenn Hiranur Gül heute als Stadtteilmutter in die Familien geht, nimmt sie ihre eigene Geschichte immer mit. »Wenn Du kein Deutsch kannst, bist Du als dumm abgestempelt, auch wenn Du nicht dumm bist«, sagt sie den Müttern mit ihrer tiefen Stimme.
Es gibt vieles, das Gül Politikern in Deutschland zum Thema Integration raten würde: Dass sie vor allem die türkischen und arabischen Männer erreichen müssen, wenn sich schnell etwas ändern soll. »Wir brauchen Kurse, in denen unsere Männer moderne Kindererziehung lernen«, sagt sie. Die Männer müsse man mitnehmen. »Sonst brechen die Familien auseinander.«
*Name geändert
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