Pro Jahrgang verweigern mehr als 100 junge Männer sowohl den Wehr- als auch den Zivildienst. Etwa jeder zehnte Totalverweigerer muss mit einer Haftstrafe rechnen - je nach Einstellung des zuständigen Gerichts.
Seit dem 21. April 2002 sitzt Ringo Ehlert in einer Arrestzelle der Bundeswehr, weil er weder Wehr- noch Zivildienst leisten will. Seine Entscheidung begründet der 24-jährige Facharbeiter mit einer »Annektion« der DDR durch die BRD. Ehlert ist Mitglied der FDJ-Restorganisation. »Ich bin kein Pazifist«, schreibt Ehlert in einer Erklärung, »ich hätte mir vorstellen können, in der NVA meinen Dienst zu tun.«
Mit dieser Begründung ist Ehlert eine Ausnahme. Die meisten Totalverweigerer handeln aus pazifistischen Motiven, sagt Detlev Beutner von der Totalverweigerer-Initiative Frankfurt(Main). Eine Begründung wie die von Ehlert hat er »noch nicht gehört«, und gutheißen möchte er sie auch nicht. Doch in zumindest einem Punkt ähneln sich die Argumentationen der Totalverweigerer: Zivildienst wird nicht als Alternative zum Wehrdienst gesehen. »Zivildienst ist Kriegsdienst«, heißt es in einer Broschüre der »Kampagne gegen Wehrpflicht, Zwangsdienste und Militär«. Tatsächlich ist der Zivildienstleistende im Kriegsfall fest eingeplant: im Luftschutz, beim Feuerlöschdienst, beim Entschärfen von Blindgängern, im Sanitätswesen, in der Waffenproduktion.
Entschließt sich ein junger Mann zur konsequenten Verweigerung, sind unterschiedliche Szenarien möglich: Stellt er erst einen Kriegsdienstverweigerungsantrag und verweigert dann den Zivildienst, muss er nur mit einem zivilen Verfahren rechnen. Wird der Einberufungsbefehl ohne Verweigerungsantrag ignoriert, drohen zusätzlich disziplinarische Maßnahmen seitens der Bundeswehr. Derzeit werden üblicherweise vier aufeinander folgende Arrest-Strafen von jeweils 21 Tagen verhängt. In kleinen Arrestzellen, bei einer Stunde Hofgang am Tag.
Anschließend beginnt die juristische Prozedur. Von Gesetz wegen drohen bis zu fünf Jahren Haft, verhängt wurde die Höchststrafe jedoch noch nie. Das härteste Urteil vor über zehn Jahren betrug 22 Monate Haft ohne Bewährung. Dem stehen inzwischen Fälle entgegen, die mit Freispruch oder einer Verwarnung ausgingen. Das Strafmaß hängt dabei stark vom Richter und der politischen Lage ab. Kurz nach dem Zusammenbruch des Ostblocks, als es eine Diskussion über den Sinn der Bundeswehr gab, sagt Detlev Beutner, gab es »eine leichte Tendenz zu milderen Strafen«, die sich aber nicht fortgesetzt habe. Etwa jeder zehnte Totalverweigerer muss heute ins Gefängnis; häufig werden die Strafen zwar zur Bewährung, aber doch in einer Höhe ausgesetzt, die sich in Form einer Vorstrafe im Lebenslauf niederschlagen.
Der Verurteilung kann durchaus eine zweite Einberufung folgen, mit der dann das Spiel von vorne beginnt. Nach einem Erlass des Verteidigungsministeriums aus der Zeit Volker Rühes sind die zuständigen Stellen gehalten, so lange Einberufungen zu verschicken und Strafverfahren anzuschieben, bis eine Strafe von sieben Monaten erreicht ist. Die Gegner des Wehrdienstes halten diese Praxis für mehr als fragwürdig.
Ringo Ehlert steht also erst am Anfang einer längeren juristischen Auseinandersetzung. Nach Einschätzung Detlev Beutners muss er, wenn ihm ab dem 11.Juni der Prozess gemacht wird, mit einer eher hohen Strafe rechnen, weil seine Begründung gegen den Wehrdienst vor Gericht möglicherweise nicht als Gewissensentscheidung anerkannt wird.
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