Wildnis im Wandel
Unweit von Bitterfeld wurden geflutete Tagebaue sich selbst überlassen
Wo sich einst riesige Kohlebagger durch die Erde fraßen, jagen heute Fisch- und Seeadler in den zahlreichen Seen nach Beute. Zu verdanken ist dies einem bundesweit wohl einmaligen Naturschutzprojekt. Im Jahr 2000 entschloss sich der Bund für Umwelt und Naturschutz Deutschland (BUND), für rund 600 000 Euro der Lausitzer- und Mitteldeutschen Verwaltungsgesellschaft 1300 Hektar Land abzukaufen. Der Plan für die Goitzsche-Wildnis: »Die Natur sollte sich entwickeln können, ohne dass der Mensch lenkend eingreift«, sagt Heidrun Heidecke. Die frühere Umweltministerin Sachsen-Anhalts fädelte damals als Mitglied des Bundesvorstands der Organisation den Kauf ein. Drei Restlochseen, ein Teil des Bernsteinsees samt drei Inseln sowie zahlreiche Wälder und Offenlandflächen sind heute in Besitz der BUND-Stiftung.
Zehn Jahre später ist die Freude über das Wildnisgebiet ungebrochen: »Die Goitzsche könnte das Tafelsilber der nächsten Generation werden«, bilanzierte der frühere Bundesumweltminister Klaus Töpfer in Anspielung auf das erfolgreiche ostdeutsche Nationalparkprogramm der 90er Jahre auf einer Naturschutztagung in Bitterfeld. Falko Heidecke, Projektleiter des Wildnisprojekts, sieht das ähnlich: »Die Goitzsche hat sich inzwischen zu einem Hotspot der Biodiversität entwickelt«, sagt er. Das liegt nicht nur daran, dass der Mensch die Natur in Ruhe walten lässt, sondern auch daran, dass die ehemaligen Tagebaue eine große landschaftliche Vielfalt bieten. In vermoorten Birkenwäldern sind Kraniche und seltene Amphibienarten zu Hause. In den großflächigen Rohbodenbereichen leben besonders gefährdete Vogelarten des Offenlands wie Steinschmätzer, Brachpieper und Raubwürger. Die Seen locken Taucherarten und überwinternde Gänse an und auf den Sandtrockenrasen sind zahlreiche Libellen- und Heuschreckenarten beheimatet. »Vor allem für Libellen, Reptilien und Amphibien sind Bergbaufolgelandschaften ein wichtiger Lebensraum«, sagt Sabine Tischew, Landschaftsökologin von der Hochschule Anhalt. Das gilt auch für viele Pflanzen. Wintergrünarten, Rautenfarne oder zahlreiche Orchideenarten fühlen sich auf ehemaligen Halden wohl, weil sie dort nährstoffarme und lichtreiche und damit optimale Bedingungen finden. »Solche Standorte sind in der vom Menschen beeinflussten Kulturlandschaft selten«, sagt die Wissenschaftlerin. Doch ohne menschlichen Eingriff nehmen vegetationsfreie Flächen ab, Sträucher und lichte Wälder breiten sich aus. Damit entstehen neue Biotope, die wiederum Rückzugsräume für seltene Arten wie Kranich und Schwarzstorch bieten.
Arrangieren muss sich mit diesem Lauf der Natur nur noch der Mensch. Ein Anfang ist gemacht: So dürfen Jäger nur in den Randzonen des Wildnisgebiets Jagd auf Wildschweine und Rehe machen; für Angler sind die BUND-Gewässer tabu. Eichen und Hainbuchen werden nur in Ausnahmen gefällt. Auf asphaltierten Wegen steht das Areal jedoch Radfahrern und Spaziergängern offen. Bei der Bevölkerung der Umgebung scheint die Wildnis Gefallen zu finden. Mehr als 3600 Menschen haben die Naturschutzranger bislang durch das Gelände geführt. Dabei steht die Wildnis-Entwicklung erst am Anfang: »Zehn Jahre Wildnis ist für die Natur nur ein Wimpernschlag«, sagt Projektleiter Heidecke.
Internet: www.goitzsche-wildnis.de
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