»Mörder in Uniform«

Mark Twain: 100 Jahre nach seinem Tod wird seine unzensierte Autobiografie publiziert

  • Reiner Oschmann
  • Lesedauer: 4 Min.

Seit einem Jahrhundert tot, erzählt Mark Twain (1835- 1910) nun erstmals mit ungefilterten Worten seine Biografie. Natürlich gab es über den US-amerikanischen Schriftsteller, Schöpfer von »Tom Sawyer« und »Huckleberry Finn«, der als Samuel Langhorne Clemens geboren wurde und sein Pseudonym einer Redewendung der Lotsen auf dem Mississippi entlehnte, nicht nur zahlreiche Biografien, sondern 1924, 1940 und 1959 auch schon Autobiografien. Doch dies waren allesamt gereinigte Fassungen. Der Autor selbst, ebenso seine Verleger und seine Tochter Clara (gestorben 1962) hatten Vorkehrungen getroffen, damit die Originalfassung der Autobiografie nicht gleich nach seinem Tod unter die Lesefreunde kam.

Mark Twain hatte verfügt, dass seine Erinnerungen im Original in den ersten hundert Jahren nach seinem Tod nicht veröffentlicht werden sollten. So könne er offener mit seiner Autobiografie umgehen, ohne Rücksicht auf den eigenen Ruf oder die Gefühle Dritter. Anfangs, so ordnete der Meister an, »sind alle deutlichen Meinungsäußerungen außen vor zu lassen. Vielleicht gibt es in hundert Jahren einen Markt für derartigen Stoff. Doch es besteht kein Grund zur Eile. Wir warten ab.« So geschah es. Bis heute. Ein weiterer Grund für das Verschleppen der vollständigen Autobiografie lag in Mark Twains Umgang mit seinen Lebenserinnerungen. Wie in vielen seiner Bücher entzog er sich einer festen Strukturierung und bevorzugte die Methode des Reiseschriftstellers, der sich von Station zu Station treiben und von seinen Eindrücken gefangen nehmen lässt.

Nun ist in den USA der erste von drei geplanten Bänden mit der ungekürzten Autobiografie erschienen, herausgegeben von der University of California in Berkeley, wo an der dortigen Bancroft-Bibliothek die Twain-Dokumente aufbewahrt werden. Es handelt sich um Papiere im Umfang von 500 000 Wörtern auf 2000 Seiten. Die ersten 700 machen den gerade erschienenen Band 1 aus. Larry Rohter schrieb in Verbindung mit dem bedeutenden Vorgang in der »New York Times«: »Sarkastisch, kauzig, komisch und streitsüchtig – so kennen wir Mark Twain. Doch in seiner ungekürzten Autobiografie ... tritt uns ein ganz anderer Twain entgegen, ein sehr viel politischerer und einer, der bereit ist, in die Rolle des wütenden Propheten zu steigen.«

Tatsächlich offenbart auch die ungekürzte Autobiografie den bekannten Twain mit seiner Gabe für großartige Aphorismen, Humor und köstliche Einzelheiten, mit seinem Geschäftssinn und – oft im weißen Anzug – seiner beachtlichen Eitelkeit. Aber eben auch einen Mann, der in seinen politischen Äußerungen mitunter geradezu zeitgenössisch wirkt. Etwa, wenn er in der Langfassung seiner Autobiografie über Militärinterventionen der USA wettert oder Schläge gegen die Magnaten der Wall Street führt. Larry Rohter: »Twains Ablehnung des heraufziehenden Imperialismus (der USA) und zum Beispiel der amerikanischen militärischen Intervention in Kuba und den Philippinen waren schon zu seinen Lebzeiten bekannt. Doch erst die unzensierte Autobiografie verdeutlicht, wie tief diese Gefühle bei ihm gingen. Sie schließen Bemerkungen ein, die – würden sie heute gemacht – im Kontext von Irak und Afghanistan die Rechten in den USA wahrscheinlich veranlassten, den Patriotismus dieses amerikanischsten aller amerikanischen Autoren in Zweifel zu ziehen.«

Ron Powers, Verfasser des Buches »Mark Twain: Ein Leben«, hebt mit Blick auf die vollständige Autobiografie hervor, dass sie »die scharfe, ungezügelte Leidenschaft«, die in der Vergangenheit durch die bereinigten Vorgänger »fast in Vergessenheit geraten war«, sichtbar mache. Dazu gehört Twains Formulierung, die Soldaten der USA hätten sich bei ihrem Einsatz auf den Philippinen als »unsere uniformierten Mörder« aufgeführt. Auch seine Kritik am Imperialismus seines Landes liest sich aus heutiger Sicht prophetisch. »Es gibt viele lustige Dinge auf der Welt, darunter die Behauptung des weißen Mannes, weniger wild als die anderen Wilden zu sein.« Oder die Feststellung: »Der Mensch ist das einzige Tier, das errötet. Oder es wenigstens sollte.« Die jetzige Autobiografie ergänzt diese Sammlung um Aperçus wie dieses: »Der Mensch ist die einzige Kreatur, die aus Spaß tötet; er ist das einzige Lebewesen, das aus purer Bosheit tötet und das einzige, das aus Rache tötet ... er ist die einzige Kreatur mit einem bösen Wesen«.

Die meisten Erinnerungen hat Mark Twain in den letzten vier Jahren vor seinem Tod am 21. April 1910 einem Stenografen diktiert. Das Vorgehen begründete er damit, so einen natürlicheren, lockeren, offeneren und umgangssprachlichen Ton pflegen zu können, als wenn er selbst die Erinnerungen niederschreibe. Twain-Experten, die die Originalmanuskripte einsahen, bestätigten den Erfolg dieser Absicht.

Natürlich widerspiegelt auch die jetzt begonnene Veröffentlichung die zeitliche, soziale und regionale Einbindung Mark Twains: seine Kindheit im hinterwäldlerischen Hannibal (Missouri) eine Generation vor dem Bürgerkrieg (1861- 1865), seine Lehre als Drucker, als Lotse auf dem Mississippi; seine erfolglose Zeit als »Gold«-gräber im Silberbergbau, seine Zeit als Reporter oder seine ihn immer ungenießbarer machende Trauer um den Tod seiner Frau und drei seiner vier Kinder. Zur Sklaverei, in seiner Kindheit gang und gäbe in den USA, notierte Twain: »Als Schulkind hatte ich keine Vorbehalte gegen die Sklaverei. Mir ist damals nicht klar gewesen, dass sie falsch war.«

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