Das große Graben
Projekt Zukunft? Seit 1992 werden die Ost-Wasserstraßen ausgebaut
Am schönsten ist Szczecin, wenn man die Stadt frühmorgens zu Wasser verlässt. Wenn vielleicht die Sonne aufgeht und wenn sich die Nebel langsam verziehen, wenn das Schloss auf der Höhe über dem Hafen langsam auftaucht. Wer Richtung Berlin möchte, muss nur sicherstellen, auf den westlichen Arm der Oder zu gelangen – und kann sich ansonsten dem Naturschauspiel hingeben. Rechts wie links ist die Landschaft geschützt, das Gehölz, das bis an die Ufer reicht, macht einen urwaldartigen Eindruck. Die Spuren des Menschen scheinen sich auf die Angelplätzchen zu beschränken, die sich die Leute eingerichtet haben. Kleine Idyllen mit Stuhl und Obdach, meist nur mit Booten zu erreichen und gebastelt mit großer Hingabe: Man fühlt sich fast als Eindringling, wenn man auf dem Wasser vorbeizieht. Doch die Angler winken stets freundlich.
Eröffnung mit Kaiser, Pauken und Getöse
Zwei Tage braucht man, um mit sieben oder acht Kilometern pro Stunde von der alten Hafenstadt in die deutsche Metropole zu tuckern – schneller fahren darf man meist nicht. Es bleibt viel Zeit für den Blick nach rechts und links. Und nicht nur das Stück auf der Westoder kann wirken wie ein Märchenland. Auch in der »Hohensaaten-Friedrichsthaler Wasserstraße« scheint man weit weg von allem, was schnell ist und modern. Mal Pferde in riesigen Gattern am Ufer, mal ist die schmale Wasserstraße selbst die Attraktion. Ganz kurz vor Schwedt mit seinem modernen Hafen treten die Ufer etwa ganz nah zusammen, man glaubt das Totholz mit den Händen greifen zu können. Suchte man Kulissen für einen Hexen- oder Zauberfilm, könnte man sich hier inspirieren lassen.
Was man dagegen überraschend selten trifft auf den Gewässern zwischen Berlin und Szczecin: andere Schiffe, vor allem kommerzielle. Im Herbst kann man die Begegnungen auf den immerhin rund 180 Kanal- und Wasserstraßenkilometern fast an den Händen abzählen: Auf mehr als 15 Kähne und Schubverbände wird man kaum kommen. Das scheint wenig, wenn man sich vergegenwärtigt, wie hoch die »Großwasserstraße« zwischen Berlin und Stettin einst gehängt wurde. Als Wilhelm II. im Sommer 1914 nach nur acht Jahren Bauzeit die Verbindung eröffnete, gab es eine Festschrift, Pauken, Trompeten und jede Menge Trara.
Die Anbindung Berlins an die Ostsee hatte hohe Priorität – auch, weil die Alternative über die Elbe Probleme machte, die man bis heute kennt: In trockenen Jahren war der Fluss kaum schiffbar. Schwierigkeiten, die man auch an der Oder kennt, weswegen man die »Hohensaaten-Friedrichsthaler Wasserstraße« – ebenfalls 1906 begonnen – auf ihren 42 Kilometern parallel zum Fluss baute. Auch das Schiffshebewerk Niederfinow, die Krönung dieser Wasser-Trasse, wurde bereits 1906 ausgeschrieben. Aufgrund des Weltkrieges und anderer Verzögerungen ging es aber erst 1934 in Betrieb. »Und im Prinzip«, sagt Peter Münch vom Wasser- und Schifffahrtsamt in Eberswalde, »sind die Wasserstraßen noch immer auf diesem Stand.«
Wasserstraßen sind Langzeitvorhaben
Der Wasserstraßenbau der Neuzeit kennt grob gesagt drei Phasen: Viel wurde, zumal im heutigen Brandenburg, bereits in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts gebaut – zum Beispiel der Finowkanal. Eine zweite Welle von Binnenschifffahrtsbauten entstand dann zum Anfang des 20. Jahrhunderts. Die dritte Ausbaustufe aber ist zeitgenössisch – und nicht unumstritten: Immer wieder ziehen Umweltschützer gegen Wasserstraßenbaumaßnahmen zu Felde. Und gerade erst ist in einem Nachrichtenmagazin ein Artikel erschienen, nach dem im Osten seit der Wende mehr oder minder sinnlos Milliarden verbuddelt wurden, während Schifffahrt kaum noch stattfinde.
Im zuständigen Potsdamer Ministerium für Landwirtschaft und Infrastruktur ärgert man sich sehr über solche Berichte. »Bei Wasserstraßen muss man halt langfristig denken«, erklärt Sprecher Lothar Wiegand, »da denkt man nicht in Dimensionen von 10, sondern von 100 Jahren.« Wiegand, »ein großer Fan der Wasserstraße«, findet sogar, dass eigentlich »noch viel mehr in diesem Bereich investiert« werden sollte: »Ein modernes Binnenschiff kann die Ladung von rund 150 Lkw aufnehmen, das ist doch kaum zu überbieten.«
Dennoch müssen auch Wasserstraßenleute wie Peter Münch einräumen, dass »die Verkehre heute noch nicht so sind, wie wir es gerne hätten«. Zwischen Berlin und Szczecin wurden nach der Statistik des Schiffshebewerks 2008 rund 2,3 Millionen Tonnen Güter transportiert, überwiegend Steinkohle, Schrott, Erze, Stahl und Dünger. Die Kapazität der Anlage wird damit bei Weitem nicht ausgeschöpft: Bis zu 3,5 Millionen Tonnen jährlich könne die Anlage transportieren, so Betriebsleiter Jörg Schumacher, ein Spitzenwert aus dem Jahr 1941. Warum nun der Neubau, der bis 2015 fertig sein und 285 Millionen Euro kosten soll?
Zu wenig Verkehr – oder zu viel Engpässe?
Schumacher erinnert daran, wie schnell sich Zahlen ändern. So sei die Kapazitätsgrenze auch in den 90er Jahren erreicht worden, als massenhaft Baustoffe nach Berlin verschifft wurden. Zudem, sagt Schumacher, bildet das alte Schiffshebewerk inzwischen das Nadelöhr schlechthin zwischen Berlin und Szczecin: Die Wanne, mit der die Schiffe über 30 Meter in die Höhe gehoben werden, ist mit gut 80 Metern zu kurz für moderne Schubverbände und Binnenschiffe, die um die 110 Meter messen. Solche Schubverbände müssten heute in Niederfinow umständlich getrennt werden. Ein weiteres Hindernis ist laut Schleusenwart Schumacher die Einfahrtshöhe: »Standard unter Brücken und Bauwerken sind heute 5,25 Meter, bei uns gehen aber höchstens 4,40 Meter.« Ein nicht unerhebliches Problem, denn so ist zwischen Berlin und Szczecin keine Containerschifffahrt möglich – Container werden im Binnenverkehr »zweistöckig« gefahren. Man müsse langfristig denken, wiederholt Ministeriumssprecher Wiegand.
Nichts als Utopie und Zukunftsmusik? Gerade im Sommer 2010 haben große Logistiker wie die DB-Tochter »Schenker Polska« Millioneninvestitionen angekündigt: In den Ostseehäfen Szczecin und Swinoujscie sollen große, ausbaufähige Containerterminals errichtet werden. Wer kann da heute schon sagen, welcher Bedarf sich in 30 oder 40 Jahren ergibt?
Der Ausbau zwischen Berlin und Szczecin steht dabei noch nicht einmal im Fokus der Planer. Deren Schwerpunkt war seit den 90er Jahren das sogenannte Verkehrsprojekt Deutsche Einheit Nr. 17: der Ausbau der Wasserstraße zwischen Rühen, Magdeburg und Berlin, inklusive des spektakulären Wasserstraßenkreuzes bei Magdeburg. Rund 2,3 Milliarden hat das bis dato gekostet – und noch fällt der Verkehr weit hinter die Prognosen zurück. Im Konflikt auch mit Umweltverbänden wurden Kompromisse gemacht. Zuletzt kippten NABU, BUND und andere Verbände den Ausbau des Sacrow-Paretzer Kanals: Dort wird nun ausgebaggert, aber nicht verbreitert – so dass »Großmotorgüterschiffe« von 110 Metern und Riesenschubverbände von bis zu 185 Metern nicht im Begegnungsverkehr fahren können. Aktuell kämpfen die Umweltschützer gegen den Neubau der Schleuse Kleinmachnow im Teltowkanal, deren Becken auf 180-Meter-Verbände ausgerichtet werden soll. Wenn das alles fertig ist, sagt Ministeriumssprecher Wiegand, werde sich auch der »verkehrliche Nutzen« einstellen – früher oder später.
Bisher allerdings boomt nur ein Bereich auf den Wasserstraßen Berlins und Brandenburgs: das Sportbootfahren in der wunderbaren Natur. Auf dem Finowkanal, der seit 100 Jahren kaum noch gewerblich genutzt wird, wurden 2009 gut elf Prozent mehr Boote geschleust als 2008. Bald soll es neue Zahlen dazu geben beim Wasser- und Schifffahrtsamt. Und sie werden ähnlich ausfallen, glauben die Verantwortlichen.
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