Gerichtssaal 600
Nach mehr als 60 Jahren bekommen die Nürnberger Prozesse ein Museum. Die historische Justizkulisse ist allerdings verloren
Im September 1945 bekam der 39-jährige Handwerksmeister Wilhelm Herbert einen lukrativen Auftrag der amerikanischen Militärverwaltung im Justizgebäude in der Fürther Straße. Dort sollte den Hauptkriegsverbrechern des so genannten Dritten Reiches der Prozess gemacht werden. Göring, Ribbentropp und 21 andere NS-Größen mussten sich vor einem Militärtribunal der Alliierten in Nürnberg verantworten. In der Frankenstadt hatten das Gefängnis und das benachbarte Justizgebäude unzerstört den Krieg überstanden und wichtige Stellen der Alliierten ihren Sitz.
Zwei Aufträge für Schreiner Herbert
Wilhelm Herbert war für den Umbau des Gerichtssaales zuständig. In nur wenigen Wochen zimmerte er mit seinen Leuten die Anklagebänke und Richtertische, sorgte dafür, dass die Rückwand herausgebrochen wurde und zwei Tribünen für Presse und Prozessbeobachter installiert wurden. Dass die Verhandlung am 20. Oktober 1945 pünktlich eröffnet werden konnte, war auch dem Schreiner Herbert zu verdanken. In der Nazizeit war er nach Amerika geflohen und mit perfekten Englischkenntnissen zurückgekehrt. Mister William C. Herbert wurde zum gefragtesten Mann auf einer Baustelle der Geschichte.
15 Jahre später sägte Wilhelm Herbert wieder am Gerichtssaal 600. Diesmal waren es nicht die Amerikaner, die ihn gerufen hatten. Anfang 1960 hatte die alliierte Militärverwaltung den Raum an die bayerische Justiz zurückgegeben. Und die war nun peinlich darauf bedacht, die Spuren der Nürnberger Prozesse zu beseitigen. »Wir haben alles weggebracht und verbrannt«, erinnert sich der heute 92-jährige Schreinermeister Heinrich von Gemünden an die Aufräumarbeiten vor 50 Jahren. Von Gemünden war Mitarbeiter bei Wilhelm Herbert, dessen rechte Hand auf der Baustelle. Richterbänke, Dolmetscherkabine, Stehpulte und Tribünenaufbauten warf er auf den Müllhaufen der Geschichte.
»Zerstörung eines welthistorischen Objekts« nennt der Nürnberger Historiker Alexander Schmidt diesen Rückbau des Gerichtssaals 600. Die Filmaufnahmen der Hauptkriegsverbrecher-Prozesse hatten den Raum weltberühmt gemacht, die Bilder der Angeklagten mit den Sonnenbrillen und der Richter vor der verdunkelten Fensterwand sind bis heute auf den TV-Bildschirmen präsent.
Als am 13. Juni 1960 der erste deutsche Strafprozess im Saal 600 stattfand, sah es dort noch genauso aus wie am Ende der Kriegsverbrecherprozesse 1949. Ein Bild in den »Nürnberger Nachrichten« aus jenen Tagen macht deutlich, wie wenig die Amerikaner nach dem Kriegsverbrecher-Prozess verändert hatten. Es ist das letzte fotografische Zeugnis der fahrlässig entsorgten Einrichtung.
»Platzbedarf« lautete die offizielle Begründung der bayerischen Justiz für die radikale Umgestaltung des historischen Raumes, doch daneben ging es auch darum, die Erinnerungen an die Nazizeit und die Siegerjustiz auszulöschen. »Der Schwurgerichtssaal soll wieder eine würdige Gerichtsstätte werden und kein Sensationsanziehungspunkt für Ausländer sein«, verlieh ein lokaler Berichterstatter im Frühjahr 1961 dem Zeitgeist Ausdruck.
Tatsächlich waren seit Prozessende amerikanische Touristen in Scharen zum Gerichtsgebäude gepilgert. Schreinermeister von Gemünden hat erlebt, wie sie 1960 mitten in der Baustelle standen und Fragen stellten. Die Handwerker antworteten nicht, denn das bayerische Landbauamt hatte ihnen einen Maulkorb verpasst.
Das Schweigegebot galt bis in die späten 60er Jahre. Klaus Kastner, heute 74 und von 1968 bis 1973 persönlicher Referent des Landgerichtspräsidenten, kann sich noch gut erinnern, wie sein Vorgesetzter die Bitte einer japanischen Professorengruppe nach einer Führung durch den Saal der Nürnberger Prozesse brüsk zurückwies. »Man soll das Thema endlich ruhen lassen«, bemerkte er knapp. Kastner führte die Delegation schließlich selbst durch den Raum und sorgte später dafür, dass die starre Verweigerungshaltung allmählich aufbrach.
Hämische Kommentare
Da sah der Saal 600 schon wieder aus wie in den Zeiten des Kaiserreiches. Mit größtmöglicher Akribie hatte die Firma Herbert die fehlenden Wandvertäfelungen nachmodelliert, die Deckenlampen durch Kronleuchter ersetzt und die Richterbank an die Stirnseite des Raumes zurückverlegt. Nur das mannshohe Kruzifix über dem Richtertisch war neu – fast schien es wie ein Zeichen dafür, dass man nun mit Gottes Hilfe die Nazizeit überwunden hatte.
Es war unmöglich in Nürnberg, das Erbe Hitlers ganz los zu werden. Draußen vor den Toren der Altstadt verrotteten die monumentalen Reste des Reichsparteitagsgeländes, und als man sich 1985 schließlich dazu entschloss, dort eine erste Ausstellung zu eröffnen, nahm auch das Interesse an den Nürnberger Prozessen wieder zu. Ständig klopften neue Besuchergruppen an – Juristen und Menschrechtler, Gäste aus Israel, Kanada und Osteuropa.
Längst hatte Klaus Kastner, inzwischen Präsident des Landgerichts, einen kleinen Stab von Richtern und höheren Beamten zusammengestellt, die Gäste führen konnten. Sie taten ihr Möglichstes und stießen doch an Grenzen, wenn internationale Gruppen historischen Sachverstand verlangten. Mehr als einmal musste Kastner sich bitterböse Kritik und hämische Kommentare aus den »Nürnberger Nachrichten« gefallen lassen. Tenor: »Die Justiz erweist Nürnberg in seinen Bemühungen um die Vergangenheitsbewältigung einen schlechten Dienst.«
Eine tatsächliche Aufarbeitung der Vergangenheit nahm in den 90er Jahren Formen an. Bund, Stadt und Land beschlossen die Eröffnung eines Dokumentationszentrums Reichsparteitagsgelände, ein internationaler Menschenrechtspreis wurde am 60. Jahrestag der Nürnberger Rassengesetze erstmals verliehen. Im Flur des Justizgebäudes waren eine Fotoausstellung eingerichtet und ein Informationsblatt ausgelegt worden.
Seit der Eröffnung des Main-Donau-Kanals hatte der Besucherdruck noch einmal kräftig zugenommen. Nürnberg war jetzt ein Hafen für Flusskreuzfahrer und die meisten Kreuzfahrer kamen aus den USA. Ihr wichtigstes Ziel: der Gerichtssaal 600. Keine »World War II Memorial Tour« ohne den Ort, an dem Amerika der Welt gezeigt hatte, was internationales Völkerrecht ist.
Im Frühjahr 2000 gab man den Gerichtssaal an Wochenenden endlich für reguläre Führungen frei. Mitarbeiter der städtischen Mu-seen übernahmen die Regie und geleiteten jährlich 20 000 Menschen durch den Saal. Zusammen mit den Führungen der Justiz waren es nun über 50 000 Menschen, die jährlich den historischen Ort der Prozesse besuchten. »Es hätten auch doppelt so viele sein können«, sagt die Historikerin Henrike Zentgraf, die beim Dokumentationszentrum Reichsparteitagsgelände inzwischen ausschließlich für den Bereich der Nürnberger Prozesse zuständig ist.
Sie sehnt den 21. November 2010 genauso herbei wie die meisten ihrer Kollegen. Dann wird endlich ein Museum im Justizgebäude eröffnet. Es trägt den Titel Memorium und beleuchtet den Verlauf der Prozesse ebenso wie ihre Bedeutung für das spätere Völkerrecht: Erstmals war in Nürnberg eine höhere Moral, ein allgemeines Menschenrecht über eine nationale Gesetzgebung gestellt worden.
Zum Erstaunen vieler wird der Saal 600 übrigens weiter Gerichtssaal bleiben. Die Museumsräume befinden sich ein Halbgeschoss darüber – etwa da, wo die Pressetribüne der Nürnberger Prozesse aufgebaut war. Der Saal ist von oben einzusehen und an verhandlungsfreien Tagen zugänglich. Man könne, so eine Sprecherin der Justiz, auf ihn nicht ganz verzichten, weil er noch immer der größte Gerichtssaal im Hause ist.
Sein Wiedererkennungswert ist trotz der komplett ausgetauschten Inneneinrichtung erstaunlich. Von ihr sind übrigens doch Dinge erhalten geblieben. Irgendwo im Keller hat man einen Teil der Anklagebank gefunden, den versehentlich nicht auf dem Sperrmüll gelandet war. Die Bank stammt natürlich auch aus der Schreinerei Herbert.
Wilhelm Herbert ist 1987 gestorben. »Zu seinen Lebzeiten«, sagt sein Sohn Matthias, »hat von ihm keiner etwas über die Nürnberger Prozesse wissen wollen.«
Das Memorium Nürnberger Prozesse ist ab 22. November täglich außer dienstags geöffnet.
Telefon 0911/ 32179372 www.memorium-nuernberg.de
Das »nd« bleibt gefährdet
Mit deiner Hilfe hat sich das »nd« zukunftsfähig aufgestellt. Dafür sagen wir danke. Und trotzdem haben wir schlechte Nachrichten. In Zeiten wie diesen bleibt eine linke Zeitung wie unsere gefährdet. Auch wenn die wirtschaftliche Entwicklung nach oben zeigt, besteht eine niedrige, sechsstellige Lücke zum Jahresende. Dein Beitrag ermöglicht uns zu recherchieren, zu schreiben und zu publizieren. Zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!
Mit deiner Unterstützung können wir weiterhin:
→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.
Sei Teil der solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.