Mitreißend und tiefgängig
In der Neuköllner Oper bekämpfen sich »Mein Avatar und ich« als fulminantes Musical
Ganz schön kompliziert, die jungen Leute mit ihrer kniffligen Computerwelt. Peter Lund, umtriebiger Regisseur, lange Mitglied im Direktorium der Neuköllner Oper, hat dazu den Text für ein Musical geschrieben, das sein künstlerischer Compagnon Thomas Zaufke vertonte. »Mein Avatar und ich« ist die bereits elfte Koproduktion des Studiengangs Musical/Show an der Universität der Künste mit der Neuköllner Oper, und weil jener Studiengang in diesem Jahr seinen 20. Geburtstag feiert, kommt dem Projekt eine besondere Bedeutung zu. Dass es auch besonders gelungen ist, darf man ohne Wenn und Aber bescheinigen. Für die elf Darsteller, in einer Person Sänger und Tänzer, bietet der Stoff beste Möglichkeiten, sich vielseitig zu präsentieren und dem gleichaltrigen Publikum am Ende auch noch eine solide Botschaft mit auf den Weg zu geben.
Bezeichnet der Begriff Avatar im Sanskrit das Herabsteigen von Göttern in irdische Sphären, hat ihn Théophile Gautier 1857 als Titel einer fantastischen Erzählung verwendet. Im heutigen Computerspiel meint er den grafischen Vertreter einer echten Person. Wer mit anderen Teilnehmern in jener virtuellen Welt kommunizieren will, ohne sich zu outen, legt sich einen Avatar zu: ein vorgefertigtes Möchtegern-Abbild seiner selbst. Joschi, naiv gutgläubiger Schulbub, hat auch einen. Er wär gern Retter der Welt und firmiert deshalb unter Baze, King of the Road. Mit diesem Pseudonym eines hochmilitarisierten Helden ballert er in Kriegsspielen herum und vergisst dabei seine Freundin Gretchen, die lieber mit ihm ins Kino ginge. Sein neuer Freund Gordon ist tief in sich eine Frau und »betreibt« den weiblichen Avatar Bee Cruel. Bis zu 18 Stunden am Tag hält sich auch Fritz, gefeuert als Zahntechniker, im Internet auf, hat dort schon 744 Freunde. Und weil schlechtes Beispiel Schule macht, zieht er den älteren Bruder Rupert, Banker und Frauenheld, mit ins Boot. Blond und blauäugig soll sein Traumtyp sein, und den findet er in Helen. Doch Helen ist nur der Avatar von Gretchens älterer Schwester Anne, die Informatik studiert und real weit weniger attraktiv ausschaut, aber schön im Herzen ist. Auch Rupert verschanzt sich hinter einem Dreamboy: Gentle John. Um Joschi nahe zu sein, spielt auch Gretchen mit, wählt Alice Magenta als grafisches Ich.
Damit beginnen die Probleme. Joschi will ehrlich bleiben, Gordon stachelt ihn im Überlebensspiel zu Tricks und Betrug an, denn es gehe nur ums Gewinnen, wie im Leben. Vielleicht sind wir im Netz, weil wir im richtigen Leben nix gebacken kriegen, dämmert als Erkenntnis. Der Weg ist das Spiel, kontert Fritz, mit dem ihn Gordon zusammengebracht hat. Und es kommt noch schlimmer. Denn auch die Avatare entwickeln eine Eigenexistenz, wollen nicht mehr Wesen ohne Willen sein, die Ideale der Realos »oben«. Baze ist des ewigen Kriegsspiels müde, dabei geführt von einem kindlichen Vollidioten, der nur pausiert, wenn Mutti den Abwasch befiehlt. John verliebt sich in Helen, hat indes Angst vor zu viel Nähe, und Helen fragt sich, ob sie ein Herz habe. Unbedingt will sie Rupert und Anne verkuppeln, entgegen allen Avatar-Regeln. So spitzt sich zu, was nach zweieinhalb Stunden in hinreißend kitschiger Pose mit dem A-cappella-Gesang »Loggt euch aus« endet: als Aufruf, sein Leben in die Realität zu verlagern.
Ulrike Reinhards Bühne bedient so schlicht wie möglich das Sujet und bietet Platz für Aktion und Tanz, den Neva Howard dynamisch choreografiert hat. Hauptplus des Abends: die Spielbegeisterung der künftigen Absolventen, ob Benjamin Sommerfeld als Joschi, Anja Backus als Gretchen, Karen Helbing als Anne, Dirk Johnston als Gordon, Johanna Spantzel als Helen, alle elf gesanglich topfit. Jörn-Felix Alt als prägnanter John brilliert selbst im Tanz.
2.-5., 9.-12., 16.-19., 22., 26., 28.-31.12., 2., 5.+6.1., Neuköllner Oper, Karl-Marx-Str. 131-133, Infos unter: www.neukoellneroper.de
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