Apokalypse der Körper

Koproduktion von Ballet Preljocaj und des Bolschoi Ballett bei spielzeit'europa

  • Karin Schmidt-Feister
  • Lesedauer: 3 Min.
Tausend Jahre Frieden?
Tausend Jahre Frieden?

Die diesjährige Eröffnung der 235. Spielzeit des Moskauer Bolschoi Theaters präsentierte im Frankreich-Russland-Jahr 2010 erstmals eine Tanzschöpfung des Franzosen Angelin Preljocaj (beim Staatsballett Berlin 2009 mit »Schneewittchen« erfolgreich). Er erarbeitete mit Tänzern seiner Compagnie und zehn Tänzern des Bolschoi Balletts das für beide Seiten höchst ungewohnte Tanzprojekt »And then, one thousand years of peace« als Paraphrase über die Apokalypse. Diese Uraufführungsproduktion des überraschend homogen agierenden Ensembles ist (in Anwesenheit des Choreografen) in Berlin zu erleben.

Hundert lange Minuten gerät die Welt mehr und mehr aus den Fugen. Die barfuß getanzte Apokalypse (griech. Enthüllung/Offenbarung) zeigt im rasanten Wechsel von meist unisono choreografierten Ensembleszenen und solistischen Bildern das Anwachsen kollektiver und individueller Deformierungen. Es geht hier nicht um die Illustration der prophetischen Visionen des Johannes von der finalen Katastrophe. Preljocaj und sein Team diagnostizieren den schleichenden Prozess des Rückfalls in die Barbarei. Techno-Magier Laurent Garnier entwickelte eine energetisch fesselnde Soundtextur, die den Bewegungsbildern expressive und meditative Spannung verleiht.

Paare verletzen einander, Männer mutieren zu Tieren, zwei finden zueinander im Kuss. Menschen marschieren mit Büchern in Mund und Händen oder blättern gebetsmühlenartig als einsame Denker. Sexblondinen winden sich vor Metallwänden, schwarze Hexen lachen mit Skeletten. Ein Mann mit aufgerissenem Oberhemd springt schreiend durch Menschen, die an ihren Büro-Stühlen festkleben. Wisperndes Stimmengemurmel begleitet den trancehaften Auftritt von zwei Gruppen, die – gesichtslos in bunte Nationalflaggen gehüllt – einander belauern oder bewusst in Sexarrangements posieren. Zwei weiße Engelfrauen tanzen zu Beethovens »Mondscheinsonate« ein Duett im Gleichklang, das jedoch keinerlei Bezug herstellt. Später tropft Blut aus Frauenmündern auf Silbertabletts.

Innerlich berührt, aufgewühlt, angeregt wird man als Zuschauer nicht. Viele Bilder bleiben unscharf, künstlich, die Bewegungen beliebig. Das liegt auch an den ständig wechselnden Kostümen des russischen Designers Igor Shapurin, die primär äußerliche Reize bedienen. Wenn Preljocaj allerdings zwei Männer expressiv über die Szene jagt, während plötzlich schwere Eisenketten von oben neben ihnen niederdonnern, ihre Hände zu flattern beginnen und sie dennoch um ihr Leben fallen, gelingen bedrückende Momente der allgegenwärtigen Existenzangst. Das überraschend klare Schlussbild ist ein Reinigungsritual, für das der indische Bühnenbildner Subodh Gupta vor den Metallwänden horizontal eine Reihe Waschbecken installiert hat. Alle Tänzerinnen und Tänzer waschen eine endlose Zahl verschiedener Nationalflaggen, schleudern sie gegen die Wände und breiten sie auf dem Boden aus. Ratlos blicken Protagonisten und Zuschauer auf das Fahnenfeld, auf dem sich zwei lebende Lämmer blökend tummeln und nicht einfangen lassen.

4.12., 20 Uhr, Haus der Berliner Festspiele, Schaperstraße 24.

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