Der Aufstand in Echtzeit
Texte zur griechischen Revolte – Intellektuelles Manifest und Erlebnisbericht
Das Buch erzählt nicht nur Vorgeschichte, Verlauf und Konsequenzen der Dezember-Ereignisse, gleichzeitig bildet es ein vielstimmiges und breites Panorama der aktuellen griechischen Protestkultur ab. Das reicht vom intellektuellen Manifest, das aktuelle linke Theorieansätze wie die des italienischen Philosophen Giorgio Agamben mit einbezieht, bis hin zum eher rohen Bericht Jugendlicher und Schüler, die begeistert von ihren Erlebnissen während der Riots berichten. Eine übergeordnete Idee, was mit den Protesten erreicht werden soll, findet sich nicht. Zu verschieden sind die Akteure, was Alter und sozialen Hintergrund angeht: vom Schüler und Studenten über den Konzertveranstalter bis hin zu jungen Selbstständigen. Aber auch politisch reicht die Palette von Autonomen über Anarchisten bis hin zu Jungsozialisten. Der gemeinsame Nenner ist die Wut über den Tod des Jugendlichen, mit dem sich alle identifizieren können. Ursprünglich erschien das Buch in einem kalifornischen Verlag. In den USA wurde es von der rechten Fernseh-Ikone Glen Beck als Nachfolge-Manifest von »Der kommende Aufstand« bezeichnet, das derzeit das hiesige Feuilleton beschäftigt.
»Die Ermordung eines fünfzehnjährigen Jungen hat einen Bruch verursacht, der groß genug ist, um diese Welt auf den Kopf zu stellen«, schreibt ein anarchistisches Kollektiv mit dem bezeichnenden Namen »Ego te provoco« am 11. Dezember 2008. Zu diesem Zeitpunkt haben sich die Proteste bereits landesweit ausgebreitet. Während die Berichterstattung hierzulande vor allem von den Bildern großer schwarzer Blöcke bei Demonstrationen bestimmt war, stehen in den Augenzeugenberichten über den Ausbruch der Revolte die kleinen, dezentralen Aktionen im Vordergrund. Oft waren es nicht mehr als zwei oder drei Dutzend Vermummte, die Schaufenster in Einkaufsstraßen zertrümmerten oder Polizeiwachen attackierten. Neben diesen reportageartigen Berichten bietet das Buch einen Überblick über die außerparlamentarische linke Szene Griechenlands, in der anarchistische Gruppen, Autonome und Kommunisten eine zentrale Rolle spielen. In einem sozialwissenschaftlichen Artikel, der sich mit der politischen Gewalt der Autonomen als rituell-performative Inszenierung beschäftigt, wird auf die junge Geschichte des griechischen Anarchismus eingegangen und ihr Bezug zur französischen 68er Bewegung, der amerikanischen Gegenkultur und den deutschen Autonomen der 80er Jahre herausgearbeitet. Neben diesem längeren Theorietext beinhaltet das Buch auch Analysen zu Aktionsformen wie Raves, Institutsbesetzungen und Stadtteilversammlungen.
Aufsehen erregte in jenen Tagen die Besetzung eines Athener Fernsehstudios. Auch dazu findet sich eine ganz praxisorientierte Beschreibung. Detailliert erzählt ein Aktivist, wie die Besetzer in Zweiergruppen, gut angezogen, mit Aktenmappen und digitalen Datenträgern über Stunden hinweg in das Gebäude einsickerten, um dann das Studio zu übernehmen, ein Transparent zu entrollen, auf dem stand »Glotzt uns nicht so an! Alle auf die Straße!« und damit die Live-Schaltung ins Parlament zu unterbrechen, wo gerade der Premierminister eine Rede hielt. So gelungen diese Aktion war, so problematisch liest sich dagegen die Geschichte einer Gruppe junger Athener, die eine alternative Mode-Boutique betreiben. Sie hatten selbst an einer Demonstration teilgenommen, in deren Verlauf ihr Laden zerstört wurde. Eine Betreiberin wollte sich schützend vor ihren Laden stellen, doch sie traute sich nicht, allein den Demo-Block zu verlassen und an der Polizei vorbei zu ihrem Geschäft zu laufen. Während in diesem Text der Frage der Gewalt kritisch nachgegangen wird, herrscht sonst eine nicht selten unreflektierte Begeisterung für die Riots vor.
Die emotionale Beteiligung aller Akteure führt dann auch zu nicht immer realistischen Einschätzungen. »In der verbrannten Stadt geht ein Gespenst um: der unbefristete, wilde Generalstreik«, heißt es in einem Text. Dabei hatte der griechische Gewerkschaftsdachverband kurz nach dem Beginn der Ausschreitungen einen schon lange geplanten Generalstreik abgesagt, um die Lage nicht weiter eskalieren zu lassen. In einem Nachwort wird dann auch formuliert, dass die mehrwöchige Revolte zwar deutliche Spuren hinterlassen hat, aber das gewohnte Leben dennoch weitergeht. »Nichts hat sich verändert, aber alles ist anders«, so das Resümee. »Wir warten, wir warten auf den richtigen Moment …«
Wir sind ein Bild der Zukunft – auf der Straße schreiben wir Geschichte, Laika-Verlag, 366 S., 24.90 €.
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