Oh, Mutter

  • Marion Pietrzok
  • Lesedauer: 5 Min.

John Lennons Song »Nowhere Man« gab den Filmtitel vor. Das weckt sogleich Erwartungen beim John-Lennon- und Beat-les-Fan. Aber er sollte sie klein halten: Nicht »St. John«, die Legende, steht im Mittelpunkt des (ersten) Spielfilms der Regisseurin Sam Taylor-Wood, die als bildende Künstlerin Weltgeltung erlangte. Sondern die Geschichte eben eines »Boys«, eines künstlerisch begabten Jungen, der in komplizierten familiären Verhältnissen aufwächst und in der Musik ein Gegengewicht, ein Lebensregulativ findet. Wenn man den Film so versteht, mit diesem Anspruch anschaut, funktioniert er. Neben einem Sittenbild des Liverpool der späten 50er Jahre ist er im Wesentlichen eine psychologisch tiefgehend gezeichnete Dreiecksgeschichte: zwischen dem 15- bis 19-Jährigen und seiner Ersatzmutter, die eigentlich seine Tante ist, zwischen ihm und seiner leiblichen Mutter, die ihn, weil sie an einer (nicht erkannten) seelischen Krankheit leidet, der älteren Schwester überlassen musste, und zwischen den beiden Frauen.

Die Figur der Mutter ist mit Anne-Marie Duff besetzt, die der Tante mit Kristin Scott Thomas, zwei erfahrene, hervorragende Schauspielerinnen, deren darstellerische Leistungen auch hier beeindrucken. Mit den so grundverschiedenen Frauen – lebenslustig und moderner Musik zugewandt die jüngere, mit an Hartherzigkeit grenzender Strenge und musikalischer Vorliebe für Tschaikowski, Mozart und Bach die ältere – steht der Junge quasi in einem Brechtschen »Kaukasischen Kreidekreis«. Das Zerrissensein nicht mehr ertragend sorgt er schließlich dafür, dass sich die Schwestern versöhnen und so etwas wie familiäre Harmonie einzieht. Die ist schnell zerstört, denn die leibliche Mutter, kaum dass er sie nach zehnjähriger »Abwesenheit« kennengelernt hat, »verlässt« ihn ein zweites Mal: Sie stirbt bei einem Autounfall. Der Junge, der Elvis Presley nacheifert und eine Band gegründet hat, wird am Ende, zum Mann gereift, seine Tante als Mutter anerkennen und sich von ihr verabschieden: Er will mit seinen Musikern nach Hamburg fahren.

Aber es ist schon fatal, den ganzen Film lang mitdenken zu müssen, dass er die Vorgeschichte und die Geburtswehen der größten Pop-Band aller Zeiten erzählen will. Auch wenn das Drehbuch auf der Biografie von Lennons Halbschwester Julia Bird, »Imagine This. Growing Up With My Brother John Lennon«, basiert – es stammt von Matt Greenhalgh (»Control«) – und somit »Frischfleisch« vorliegt – man wird den Gedanken nicht los, dass die Beatles- und John-Lennon-Vermarktungsindustrie mit Blick auf etliche Jubiläen hier ihre Finger im Spiel hatte. »Nowhere Boy« startet bereits heute in den deutschen Kinos, am 30. Todestag Lennons. Auf dem Filmfest in Hamburg, der Stadt, in der die beispiellose Karriere der Beatles begann, erhielt der Film einen Preis. Genau an dem Tag, da Lennon 70 Jahre alt geworden wäre, am 9. Oktober. Seine Witwe Yoko Ono, die Unvermeidliche in allen Lennon-Angelegenheiten, hat die Filmemacher an Originalschauplätze in Liverpool geführt. Keine Tristesse dort, stets alles herrlich durchsonnt.

Des Weiteren entdeckt der Lennon-Fan in einer der Szenen, die in der Schule spielen – Lennon war kein guter Schüler, aber mit intelligenter großer Klappe ausgestattet, hatte Talent für die bildende Kunst –, eine verschlüsselte Anspielung auf Lennons zweiten Vornamen, beziehungsweise den Vornamen-Geber, Winston: Der Junge ist, statt den Ausführungen des Geschichtslehrers zu folgen, ganz darin vertieft, Comics ins Schulheft zu zeichnen. Die vom Banknachbarn vorgeflüsterte Antwort auf die Pistolenschussfrage des ärgerlichen Lehrers lautet: Churchill. Ein hübscher Einfall.

Der Film zeigt die Mundharmonika, die John von seinem Onkel – einem Vaterersatz – geschenkt bekommen hatte. Das Banjo (des leiblichen Vaters), auf dem John erste Technik fürs spätere Gitarrespiel erlernte: Die Mutter Julia bringt ihm bei, wie das Handgelenk locker zu halten ist. Und dass Rock 'n' Roll, für den die auch sonst leidenschaftliche Frau hemmungslos schwärmt, was mit Sex zu tun hat. Erotisch getönt sind so manche Szenen mit Mutter und Sohn – die Regisseurin Taylor-Wood und ihr 24 Jahre jüngerer Hauptdarsteller Aaron Johnson sind im wirklichen Leben ein Paar und haben ein Kind.

Johnson besitzt weder die länglich-spitze Nase wie Lennon, sondern eine eher knubblige, noch die schmalen Lippen, sondern aufgeworfen volle. Mit seinem Spiel ist er trotzdem ein durchaus anerkennenswertes Abbild des Stars in seiner vorberühmten Zeit geworden. Sprechstimme (in der nichtsynchronisierten Fassung), Gang und vor allem die Mimik schaffen die schöne Illusion.

Der Film spielt – etwas holperig – auf die Ausbrüche des Zynischen und der Gewalt an, die sich in dem hochsensiblen jungen Mann weniger als Pubertierendem, sondern vor allem wegen der schweren Verluste und Enttäuschungen aufgebaut hatten. Die Begegnung zwischen Lennon und Paul McCartney – dessen Darsteller so gar keine physiognomische Ähnlichkeit mit dem Beatle-Original hat – ist, nicht zuletzt auch deswegen, eine der gelungensten Szenen des Films. Der im Übrigen die Bravheit der Inszenierung – mit unsäglichen Einblendungen von Albträumen zur Illustrierung des Traumas aus der Kinderzeit – nur ein einziges Mal durchbricht: Die Sequenz zeigt John Akkorde und Griffe auf der Gitarre üben – in Filmzeit-Geschwindigkeit. Dass er dabei seine Umwelt nicht mehr wahrnimmt, wird durch den Einsatz des Zeitraffers für das Geschehen um ihn herum verdeutlicht. Eine Optik, die dem echten John Lennon gefallen hätte. Mehr solcher Gimmicks, ein bisschen Mut zu Experimentellem hätte man wohl erwarten dürfen.

Zum Schluss ist ein Song John Lennons zu hören, von ihm selbst gesungen: während des Abspanns: »Mother, you had me, but I never had you, Father, you left me, but I never left you, Mama, don't go, Daddy come home!« – Warum will der Film nun noch ins tränenreich Kitschige abrutschen? Das Lied bricht ab, und Lennon sagt: »So ungefähr könnte es gehen.« Aha, Studioprobe. Danke, John, wir sind wieder nüchtern.

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