Der Winter der Anarchie

Westberlins Altbauten – einst vor dem Abriss gerettet – sind heute für viele unbezahlbar

  • Christoph Villinger
  • Lesedauer: 5 Min.
Der 12. Dezember 1980 gilt als die Geburtsstunde der Westberliner Hausbesetzerbewegung. 30 Jahre später bestreitet niemand mehr, dass die darauf folgende Welle von »Instandbesetzungen« letztlich den Erhalt vieler Altbauviertel Berlins bewirkte. Heute gibt es um die damals geretteten Häuser neue Konflikte. Mittlerweile will jeder, der etwas auf sich hält, im schick sanierten Altbau wohnen.
Michael Kipp dokumentierte in den 80er Jahren die Hausbesetzerbewegung. Nach seinem Tod 2009 erbte das Umbruch Bildarchiv seine Fotos. Dabei fand sich auch ein Bildband, in dem der Fotograf einige seiner bekanntesten Aufnahmen – wie die vom Fraenkelufer – mit erläuternden Texten versehen hatte.
Michael Kipp dokumentierte in den 80er Jahren die Hausbesetzerbewegung. Nach seinem Tod 2009 erbte das Umbruch Bildarchiv seine Fotos. Dabei fand sich auch ein Bildband, in dem der Fotograf einige seiner bekanntesten Aufnahmen – wie die vom Fraenkelufer – mit erläuternden Texten versehen hatte.

Es war der berühmte Funke am Pulverfass. Als am 12. Dezember 1980 die Westberliner Polizei ein zum Abriss vorgesehenes und gerade frisch besetztes Haus am Fraenkelufer räumte, brannten Stunden später rund ums Kottbusser Tor die Barrikaden. »Jetzt ist Schluss«, lautete die Kampfansage von Seiten des Berliner Senats, er wollte neben den bereits bestehenden besetzten Häusern keine weiteren dulden. Doch »Jetzt reicht’s!« sagten auch viele Kreuzberger. Innerhalb weniger Stunden entlud sich eine lange aufgestaute Wut über die staatliche Sanierungspolitik. Die von der Heftigkeit und Breite der Gegenwehr völlig überraschten Polizisten wurden mit Tausenden von Berliner Pflastersteinen beworfen. Als sie sich vorübergehend zurückziehen mussten, plünderte »die Bevölkerung« die Supermärkte rund um das Kottbusser Tor.

Auch Sebastian* geriet an jenem Abend mitten in die Krawalle. Eigentlich war er auf dem Weg zu einem Punk-Konzert in einem Kreuzberger Hinterhof. »Wenige Monate zuvor war ich mit dem frisch gemachten Abitur in der Tasche nach Westberlin gezogen«, erinnert er sich, »denn als Berliner musste man nicht zur Bundeswehr und die Stadt war nicht zu vergleichen mit der spießigen Enge der westdeutschen Provinznester.« Viele wie Sebastian erlebten diese Nacht als die Geburtsstunde der Westberliner Hausbesetzerbewegung. In seinen Erzählungen gibt es immer wieder ein »vor dem 12.12.« und ein »Danach«. Bis zu diesem Datum waren knapp 20 Häuser besetzt, aber nun ging es richtig los. »Innerhalb weniger Tage lernte ich unzählige neue Leute kennen und schon bald besetzten wir ein weiteres leerstehendes Haus in Kreuzberg.« Aus den bis dahin 20 wurden innerhalb kürzester Zeit 200.

Heute wohnt Sebastian in einem ehemals besetzten Haus in der Oranienstraße. »Niemand kann sich mehr vorstellen, dass noch vor 30 Jahren hier eine Autobahn quer über den Oranienplatz geplant war und deshalb viele der Häuser leer standen.« Erst die Hausbesetzer stoppten diese Pläne endgültig, umstritten waren sie schon zuvor. Seine Mitbewohnerin Silvia von Rom nach Berlin ins besetzte Haus gezogen. »Wenn ich damals in Italien erzählte, ich wohne in Kreuzberg, sagten viele ›Oh, wie schrecklich‹, und heute sagen die gleichen Leute ›Chic, wie schön!‹« – »So ändern sich die Zeiten«, kommentiert Sebastian leicht melancholisch.

Damals hatten die Hausbesetzer politisch vorerst gewonnen. Die Auseinandersetzungen verlagerten sich rasch aus Kreuzberg hinaus an den Kurfürstendamm. Zweimal gingen dort in den Tagen nach dem 12. Dezember bei wütenden Demonstrationen die Schaufenster von Edelboutiquen und Kaufhäusern zu Bruch. Einige Tage später forderten 15 000 Menschen vor dem Untersuchungsgefängnis in Moabit die Freilassung der Gefangenen. Der Polizeipräsident Klaus Hübner erklärte, dass »sich politische Probleme nicht polizeilich lösen lassen«. Innerhalb weniger Wochen besetzten in dem neu entstandenen Machtvakuum in der Stadt tausende junge Menschen rund 200 Häuser, davon etwa 160 dauerhaft. Manche Häuser waren so heruntergekommen, dass sie selbst für Punker unzumutbar waren. Und andere zogen in Zehlendorf in die leerstehende »Villa Lima« mit Schwimming-Pool.

Mehrere Gründe hatten zu dieser Situation geführt. Zu offensichtlich waren die kostenintensive Sanierungspolitik und das Ziel einer autogerechten Stadt gescheitert. Insbesondere in Kreuzberg standen zum Teil halbe Straßenzüge leer. Spekulanten hofften auf die baldige Abrissgenehmigung und nachfolgend hochsubventionierten Neubau. Wo sie diese nicht schnell genug genehmigt bekamen, halfen sie auch schon mal bei der Zerstörung des Hauses nach: Scheiben wurden zerschlagen und Kachelöfen zertrümmert. Gleichzeitig herrschte in der Stadt eine große Wohnungsnot. »In den langen Schlangen vor den Zeitungskiosken am Bahnhof Zoo, wenn die Sonntagsblätter mit den Wohnungsanzeigen erschienen, standen ebenso die jungen Polizisten«, erinnert sich Sebastian.

Spätestens seit dem Sommer hatte sich in mehreren Stadtteilen eine explosive Mischung zusammengebraut. Berühmt wurde Kreuzberg, doch ähnliche Konflikte um die städtische Abrisspolitik gab es rund um den Winterfeldplatz in Schöneberg ebenso wie in Charlottenburg südlich des Schlosses. In Kreuzberg hatte in den 70er-Jahren auch das alteingesessene Bürgertum begonnen, sich gegen die Abrisspolitik und die damit verbundene Vertreibung zu wehren. Bekanntester Exponent ist Werner Orlowsky, Inhaber einer kleinen Drogerie in der Dresdener Straße, dem das vor die Nase gesetzte Neue Kreuzberger Zentrum die wirtschaftliche Existenz zerstörte. Später, im Sommer 1981, wurde er der erste grüne Baustadtrat von Kreuzberg.

Punks, Alternative und empörte Bürger besetzten ein leerstehendes Haus nach dem anderen. Sei es, um dort alternatives Leben und Arbeiten zu verwirklichen, sei es als Brückenkopf der erträumten Weltrevolution. Ihre Parole: »Lieber Instand-(be)setzen als kaputt sanieren.« Und der zweifach gelähmte Senat schaute zu. Zum einem versank die regierende SPD immer mehr in dem »Garski-Bauskandal« rund um den Steglitzer Kreisel, zum anderen widersprachen die negativen Folgen der Spekulation mit Häusern und die Wohnungsnot zu offensichtlich den eigenen politischen Ansprüchen.

Doch »der kurze Winter der Anarchie« dauerte nicht lange. Die Hausbesetzer zerstritten sich bald über der Frage, ob man mit dem Senat verhandeln solle oder nicht. Während die einen auf Miet- bzw. Kaufverträge und eine selbstorganisierte Instandsetzung ihrer Häuser zielten, erklärte der militante Flügel der Bewegung die Häuser für »enteignet«. Und auch das Westberliner Bürgertum konsolidierte sich. Die CDU präsentierte als liberales Aushängeschild Richard von Weizäcker als Spitzenkandidat für die anstehenden Neuwahlen. Zwar schafften es auch die Vorläufer der Grünen ins Abgeordnetenhaus, doch eine Mehrheit der Westberliner entschied sich für »Sicherheit und Ordnung«.

Ab dem Sommer 1981 ließ der Senat etwa die Hälfte der besetzten Häuser mit zum Teil martialischem Polizeiaufgebot räumen, gleichzeitig bekamen andere Häuser konkrete Vertragsangebote, insbesondere in Kreuzberg. Letztlich wurden so rund 80 der besetzten Häuser, meist im Rahmen von Genossenschaften oder städtischen Wohnungsbaugesellschaften, legalisiert. Der neue Senat stoppte die Abrisspolitik und subventionierte nun mit Millionenbeträgen die »behutsame Stadterneuerung«. Ziel war von nun an die Reparatur der Stadt. Die bis heute geltenden Leitlinien setzten sich nach dem Mauerfall auch in Ostberlin durch, sei es im Prenzlauer Berg oder bei der Rekonstruktion des Pariser Platzes am Brandenburger Tor.

30 Jahre später ist die Oranienstraße eine der lebendigsten Straßen der Stadt. Doch es rumoren auch neue Widersprüche im Viertel. »Mit 50 Jahren hat man einfach andere Bedürfnisse als mit 20«, erzählt Silvia. Am meisten Sorgen aber machen ihr wie auch Sebastian die steigenden Mieten. »Wir werden mit den kostengünstigen Mieten in unserem selbstverwalteten Haus immer mehr zur Insel«, sagt Sebastian, »aber für viele unserer Nachbarn werden die sanierten Altbau-Wohnungen unbezahlbar.«

* Name geändert

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