Bibelparabel und Tempelritual
Sidi Larbi Cherkaoui und Shen Wei bei spielzeit’europa im Haus der Berliner Festspiele
Wie unterschiedlich zeitgenössischer Tanz gefasst werden kann, zeigten zwei internationale Ensembles bei der spielzeit’europa im Haus der Berliner Festspiele. Nach »Sutra« als Dialog zwischen buddhistischer und europäischer Denkweise hatte Sidi Larbi Cherkaoui eine neue Produktion im Gepäck. Wieder geht es um Religion, diesmal jedoch in größerem Kontext, wie ihn das biblisch-sumerische Gleichnis vom Turmbau zu Babel als Rampe für Fragen an die Gegenwart anbietet. In »Babel (words)« forschen Larbi, sein Co-Choreograf Damien Jalet und die 13 exzellenten Tänzer nach dem Gemeinsamen und Trennenden in einer globalisierten Welt.
Antony Gormleys symbolhafte Bühne kann ihre riesigen metallenen Quader, alle verschiedenen Formats und auch als Käfige benutzt, zur fünfstufigen Zikkurat fügen, die sich zudem ständig verändert und wieder in Gefängnisse für die in ihren Landessprachen verhafteten Menschen zerfällt. Einer rackert sich darin ab und findet nicht den Ausgang; eine Frau durchschreitet das Gebilde und zeigt, wie einfach manches sein könnte. Auch verbal geht es um Sprache. Viele artikulieren sich, ironisch, spitzfindig, philosophisch, zu Fibonacci-Folge, Kursgewinn und Spiegelneuronen, gleich ob das jemand versteht.
Die Rahmen tanzen, kippen, klappen, drehen, die Menschen wenden und winden sich, jeder wirbt bald in nationaler Zunge und mit akrobatischem Furor für seine Sicht, bisweilen in so fliegendem wie fließendem Tanz. Eine Frau mutiert zum Gliederautomaten, ein Mann tobt tierhaft; manchmal siegt die neugierige Freude, den anderen schlicht zu berühren. Das sind die tänzerischen und emotionalen Ruhepunkte im selbstläufigen Weltentaumel.
Vom kurzen Weg des »forgive me« zum »give me« plappert die Puppe und spricht damit Wahrheit aus. Als nationale Ressentiments ins Rennen kommen, zerbröselt die Gemeinschaft endgültig, ist der Weg in die Barbarei vorgezeichnet: Als wüst verkeilte Skulptur schlagen mit zerdehnter Zeit die Rivalen aufeinander ein; der Friedenssang von der Empore der Musiker herunter verpufft. Philosophien, dies die Quintessenz, mögen gescheitert sein, die Menschen nicht. In beinverhakelter Reihe üben sie den Gang vorwärt. Es besteht also noch Hoffnung.
Dem flämisch-marokkanischen Belgier Cherkaoui folgte mit drei Stücken das Berlin-Debüt des in den USA lebenden Chinesen Shen Wei. Einzig das brillante »Re-(Part II)« konnte überzeugen. Angeregt wurde Shen Wei zum Mittelteil eines Triptychons, das Reisen nach Tibet und zur Seidenstraße aufarbeitet, durch den Besuch der Tempel von Angkor. Naturlaute etwa von Vögeln und anderem Getier in den teils noch überdschungelten Anlagen sowie Musik eines Orchesters aus Versehrten der Rote-Khmer-Ära und verstümmelten Minenopfern liefert originale Klangatmosphäre. Der Tanz zitiert den bezaubernd reichen Tempelschmuck. Zwölf Tänzer in Reihe werden unter projizierten Ornamentbändern zum bewegten Fries; Großaufnahmen der Ruinen eines der berühmtesten Tempel bilden den Rahmen für Shen Weis Komposition, die Posen aus den plastischen Szenen mit den »göttlichen Tänzerinnen« einflicht.
Was ihm im einleitenden »Rite of Spring«, Fassung für Klavier zu vier Händen, nicht gelingt, ein schlüssiges Gesamtkonzept für seine formalen, wiewohl sehr musikalisch eingesetzten Bewegungsschnipsel zu finden, beherrscht er in »Re-(Part II)« souverän. In der größeren Freiheit einer nicht inhaltlich gebundenen Musik lässt sich seine ganzkörperlich geschmeidige Bewegung mit Torsion und Spirale, aus multiplizierten Einzelbewegungen und Bodenakrobatik ohne Abstriche genießen. Zum Streicherklang von John Taveners »Tears of Angels« formt Shen Wei aus Tänzerleibern jenes Wurzelgeflecht nach, das die Ruinen zusammenhält und bedroht, findet in drei Tänzern mit geweißten Körpern eine fantasievoll zeitgemäße Entsprechung zu den Torsi des plastischen Schmucks.
Das macht neugierig aufs gesamte Triptychon. Dass Shen Weis freundliche Geste an unsere Stadt wenig Sinnfälliges zu bieten hatte, mag man indes bedauern. In »B.E.R.L.I.N.« fächert er selbst als Tänzer sein Bewegungsvokabular auf, mäßig angefeuert von Buchstaben und Zahlen, wie sie ihm eine am Rande sitzende Frau zuruft.
Nochmals 18.12., 20 Uhr. Letztes Gastspiel: »Tristi Tropici«, Compagnia Virgilio Sieni, 21.12., 20 Uhr, Haus der Berliner Festspiele, Schaperstr. 24, Charlottenburg, Kartentelefon 25 48 91 00, Infos unter www.spielzeiteuropa.de
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