Am Schuttgarter Klagemäuerle
Der Bauzaun am Bonatz-Bahnhof ist Schauplatz einer schwäbischen Selbstvergewisserung – und kommt ins Museum
Er macht sich wichtig, er schreit und hasst, er ist »konservativ, wohlhabend und nicht mehr jung«, berufsempört aus satter Langeweile: Der »Wutbürger« aus einem gleichnamigen Spiegel-Aufsatz, der auch nach Auffassung der Gesellschaft für Deutsche Sprache das Charakteristikum und deshalb auch das »Wort des Jahres« des vergangenen Jahres darstellt. Und die Beobachtung hat ja viel für sich: Zum Beispiel in der Hamburger Bewegung für Schulsegregation und ihrer Fortsetzung in der »Integrationsdebatte« nach dem Buch von Thilo Sarrazin hat sich im vergangenen Jahr ein Spektrum »außerparlamentarisch« zu Wort gemeldet, das sich für solche Methoden lange Zeit zu fein war.
Dass aber sowohl das Nachrichtenmagazin als auch die ehrwürdigen Sprachschützer ausgerechnet den Stuttgarter Bahnhofsprotest als Aushängeschild dieses Straßenkampfkonservatismus ausgemacht haben, erstaunt denn doch – zumindest jeden, der in den letzten Monaten mal eine Stunde Aufenthalt im Bonatz-Bahnhof hatte. Denn was sich auf den Zäunen am Nordflügel und im Schlossgarten über Monate niedergeschlagen hat, mag zwar in manchen Ohren skurril klingen. Dem Universum von Dünkel, Privilegiertenmentalität und Missgunst, in dem die Schulreformverhinderer und Gemüsehändlerfeinde ihre Bahnen ziehen, entstammt das Stuttgarter Gedankengut aber gewiss nicht.
Trotz der bekannten Prophezeiung, dass jegliche Revolution genau dann mausetot ist, wenn sie ins Museum kommt, ist es daher erfreulich, dass der Bauzaun für die Nachwelt gesichert werden soll und in nun bereits zwei Bildbändchen dokumentiert ist – die, wenn nicht eine »Seele«, dann doch wenigstens die Oberflächen des Protestes abbilden.
Und die präsentieren sich, im Unterschied zur Design-Aufregung der Hamburger Gymnasialkämpfer, nicht professionell und blankpoliert. Sie sind, mit den gestalterischen Mitteln von heute, so radikal subjektiv, so wild assoziierend und zuweilen auch so abwegig wie immer in der Geschichte sozialer Bewegungen. Vielleicht spiegeln sie damit sogar ein »authentisches« Bild. Die Oberflächen aus Laken, aus Schriften und Bildern und Objekten von der kämpferischen Kehrschaufel bis zur amputierten Schaufensterpuppe zeigen, wozu die Fantasie imstande ist – sobald sie sich auf ein Ziel richten kann. Und auf einen Gegner.
Gefährlich aus Sicht der Mächtigen wird es immer dann, wenn die Vordruck-Banner verschwinden und das Selbstgebastelte erscheint, die Reime, die nicht aufgehen, die hinkenden Analogien. Der Stuttgarter Bauzaun dokumentiert die Schöpfungskraft eines solchen Eifers, das überschießende Wissen, das produziert, wer die ganze Welt auf sein Anliegen bezieht. Wer hätte zuvor zu sagen gewusst, dass die Bäume im Park schon standen, »als Katsushika Hokusai die 36 Ansichten des Fuji schuf«?
Zudem zeigt das Klagemäuerle, wie sehr sich im Protestmodus die wahre Heimatliebe äußert. Was »Schuttgart«, was das Ländle ausmacht, wird auf Krawall gebürstet und eingemeindet: die Geologie, die Kehrwoche, das Mineralwasser, der Dialekt, das frühere Königshaus von Napoleons Gnaden, Sprüche aus dem Bahnhofs- und dem Landesmarketing – und natürlich das Äffle und das Pferdle, die Werbetrenner aus dem Südwestfernsehen.
Es gehört nicht viel Fantasie dazu, dieses schwarze Brett Meinungsbildung als kritische Selbstvergewisserung einer ganzen Region zu lesen. Nur: Weil es um Stuttgart geht, wartet man schon darauf, dass die Stadtvermarkter endlich den Elfmeter verwandeln – und mit dem Slogan »Weltstadt der Querköpfe« herüberkommen.
Sybille und Ulrich Weitz (Hg): Der Stuttgarter Bauzaun. Phantasie des Protests, Tübingen 2010.
Albrecht Götz von Olenhusen, Gerd Paulus (Hg): Oben bleiben! Manifeste und Bilder des Protests, Zürich 2010.
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