Neuer Höchststand bei Klagen gegen Hartz IV
30 000 Verfahren allein im Jahr 2009, Richter sehen aufgrund umstrittener Neuerungen kein Ende
Sechs Jahre nach Einführung der Hartz IV-Gesetze hat die Zahl der Klagen an Deutschlands größtem Sozialgericht in Berlin einen dramatischen Höhepunkt erreicht. »Gingen 2005 im ersten Jahr von Hartz IV noch knapp 7000 Klagen ein, werden es in diesem Jahr bis Ende Dezember voraussichtlich mehr als 30 000 neue Verfahren sein«, sagte Richter Marcus Howe im Gespräch mit der Nachrichtenagentur dpa. »Wir haben jedes Jahr Rekordmarken. Die Zahl der Klagen steigt und steigt von Jahr zu Jahr dramatisch an.« Seit Beginn der tiefgreifenden Reform landeten insgesamt etwa 115 000 Hartz-IV-Verfahren beim Sozialgericht in der Hauptstadt.
Doch damit nicht genug: Die umstrittenen Neuerungen bei Hartz IV werfen jede Menge neuer Fragen auf. »Auch wenn das Gesetz noch nicht beschlossen ist – es wird dazu Klagen in Größenordnungen geben«, befürchtete Gerichtssprecher Howe. Die vom Bundesverfassungsgericht geforderte Neuregelung sei mit heißer Nadel gestrickt. Eine entscheidende Frage sei, ob der geplante, um fünf Euro erhöhte Regelsatz von 364 Euro pro Monat verfassungsgemäß berechnet wurde.
Streit sei auch beim Bildungspaket für Kinder programmiert. »Da gibt es mehrere unbestimmte Rechtsbegriffe – wann zum Beispiel ist eine zusätzliche Lernförderung erforderlich?« Der Bundesrat hatte die Neuregelung der schwarz-gelben Bundesregierung blockiert, die ursprünglich zum 1. Januar 2011 in Kraft treten sollte. Derzeit sucht eine Bund-Länder-Arbeitsgruppe nach einem Kompromiss. In Berlin bekommen rund 300 000 Haushalte Hartz IV-Leistungen.
Richter Howe beklagte, dass viele Bescheide der Jobcenter für Arbeitslose unklar und fehlerhaft seien – gerade bei der Anrechnung von Einkommen auf Hartz IV-Geld. Auch Streit um Sanktionen lande häufig bei den Sozialrichtern. »Eine pauschale Belehrung der Leistungsempfänger über Folgen von Pflichtverletzungen wie eine abgebrochene Qualifizierung reicht nicht, um Geld zu kürzen.« Viele Klagen gebe es auch zu den Wohnkosten. »Das Gesetz sagt, dass die Jobcenter angemessene Kosten der Unterkunft übernehmen – doch was ist angemessen? Das ist seit nunmehr sechs Jahren ein schillernder Begriff.«
Auch Untätigkeitsklagen gegen die überforderten Jobcenter seien nicht selten – etwa, wenn Anträge oder Widersprüche erst Wochen nach Ablauf der Fristen bearbeitet werden. »Das wäre vermeidbar, wenn die Center vernünftig personell ausgestattet wären«, sagte Howe. Gebraucht würden dort Menschen, die den Arbeitslosen die oft unverständlichen Bescheide erklärten. »Doch das Vertrauen vieler Arbeitsloser in die Jobcenter ist weitgehend ruiniert.« Klagen wären vermeidbar, wenn sich beide Seiten rechtzeitig zusammensetzen würden. Die Rechtsunsicherheit sinke nicht, sagte Howe. »Hartz IV ist eine tiefgreifende, politisch umstrittene Reform mit großem bürokratischen Aufwand. Wir als Gericht müssen die Fragen lösen, die das Gesetz offen lässt«, sagte der 42-Jährige. Je ungenauer die Regelungen seien, desto mehr Streit gebe es. »2011 wird keine Ruhe einkehren.«
Obwohl jetzt mehr als doppelt so viele Richter als vor Beginn der Hartz IV-Regelung am Sozialgericht arbeiten, werde der Aktenberg nicht kleiner, so Howe. Von den derzeit 120 Richterstellen seien rund 70 allein für die Hartz IV-Fälle. In diesem Jahr seien 20 Stellen hinzugekommen. »Trotzdem arbeiten wir an der Belastungsgrenze – aber bundesweit stehen wir mit an der Spitze bei den erledigten Verfahren.« Die Richter seien hoch motiviert. »Wir stellen Rechtsfrieden her.« Fast jeder zweite Hartz IV-Kläger habe mindestens zum Teil Erfolg vor Gericht. 80 Prozent der Klagen zur Arbeitsmarktreform endeten im Einvernehmen. »Die Bürger haben Vertrauen in das Sozialgericht«, sagte Howe.
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