Quantenmaschine und 1000-Dollar-Genom
Fachjournale erwarten 2011 Laser-Kernfusion und Neues vom Teilchenbeschleuniger LHC
Im Geburtsland der modernen Chemie ist schon das Wort »Chemie« heute vielfach ein Schimpfwort. Bei den Vereinten Nationen erwartet man ganz im Gegenteil von der Chemie noch Großes für die Lösung vieler aktueller Menschheitsprobleme vom Klima über Energieeffizienz bis hin zu neuen Medikamenten. Deshalb hat die UN das Jahr 2011 zum »Jahr der Chemie« ausgerufen. Sieht man sich an, was die beiden größten Wissenschaftsjournale der Welt – die britische »Nature« und das US-Blatt »Science« – für die vielversprechenden Forschungsfelder dieses Jahres halten, dann ist die Chemie da nicht ganz so präsent. »Science« erwähnt sie nur implizit, wenn die technischen Neuerungen für Elektroautos und Hybridfahrzeuge als wichtiges Feld benannt werden. »Nature« eröffnet zwar das erste Heft des neuen Jahres mit einem Special zum »Jahr der Chemie«, bei dem die »Grüne Chemie« zur Langzeitaufgabe erklärt wird; in der Vorschau auf potenzielle Schlüsselentdeckungen des Jahres kommt die Chemie jedoch gar nicht vor.
Die größten Erwartungen setzen beide Journale in die Physik und die Gentechnik. »Science« etwa erwartet erste interessante Ergebnisse vom größten Teilchenbeschleuniger der Welt, dem LHC des europäischen Kernforschungszentrums CERN bei Genf, und beide Blätter weisen auf das Kernfusionsexperiment der US-amerikanischen »National Ignition Facility« hin. Deren 192 Hochleistungslaser sollen in diesem Jahr erstmals eine Kernfusionsreaktion zünden, die mehr Energie liefert, als die gewaltigen Laser verbrauchen.
»Nature« erwartet für 2011, dass die 1000-Dollar-Marke für die Entzifferung (Sequenzierung) des gesamten Genoms eines Menschen geknackt wird. Dann – so hofft die »Science«-Redaktion – werde man eine Vielzahl von Genen finden, die den verschiedenen Organismen die Anpassung an widrige Lebensumstände erlauben.
Auch beim Rückblick auf das vergangene Wissenschaftsjahr verteilen die beiden Zeitschriften die Gewichte ähnlich. Viel Genetik, Antimaterie und die Folgen des Klimawandels bei der Leserauswahl von »Nature«. Und »Science« kürte als »Durchbruch des Jahres« eine winzige schwingende Zunge, die das bisher größte physikalische Objekt ist, das den Gesetzen der Quantentheorie folgt. Andrew Cleland und John Martinis aus Santa Barbara sei es durch Kopplung der 30 Mikrometer »langen« Zunge mit einem supraleitenden Quantenbit gelungen, einen Zustand herzustellen, wo die Zunge gleichzeitig ruht und schwingt, »ein Phänomen, das nur die Quantenmechanik erlaubt«.
Auf den Plätzen der »Science«-Top-Ten kommt dann reichlich Genetik: zuerst die Herstellung eines künstlichen Bakteriengenoms und dessen erfolgreicher Einbau anstelle des natürlichen Erbguts eines Bakteriums. Die Bioethik-Kommission des US-Präsidenten gab der Synthetischen Biologie des Teams um Genforscher Craig Venter kurz vor Weihnachten noch ihren Segen.
Auch ein überraschender Blick in die Menschheitsgeschichte verdankt der Gentechnik seine wesentlichen Beweise. Unter Federführung des Leipziger Max-Planck-Instituts für evolutionäre Anthropologie entzifferte ein internationales Forscherteam den größten Teil des Erbguts in rund 40 000 Jahre alten Knochenresten von drei weiblichen Neandertalern. Entgegen früheren Analysen kleiner Teile des Genoms zeigte sich, dass Europäer und Asiaten anders als Afrikaner ein bis vier Prozent ihrer Gene vom Neandertaler geerbt haben. Die verbesserten Methoden zur DNA-Sequenzierung haben laut »Science« die Identifizierung krankmachender Gene bei wenigstens zwölf bislang rätselhaften Krankheiten ermöglicht, darunter Fehlbildungen des Gehirns und des Gesichts sowie extrem niedrige Cholesterolwerte.
Ein Forschungsfeld, das die Zeitschrift schon Ende 2009 als aussichtsreich einstufte, kam diesmal ebenfalls unter die Top Ten: die Reprogrammierung von Körperzellen zu sogenannten induzierten Pluripotenten Stammzellen (iPSC) mit Hilfe von synthetischen Molekülen der zweiten Kernsubstanz des Erbguts, der RNA. Diese Technik sei schneller und effizienter als der bisherigen genetischen Methoden. Zudem sei sie eventuell sicherer, da sie auf fremde Gene, die mit der Entstehung von Krebs verbunden sein können, verzichtet.
Hoffnung gebe es, so die »Science«-Redaktion, bei der Aids-Vorbeugung dank eines Vaginalgels, das bei 39 Prozent der Frauen die an einer Studie teilnahmen, die HIV-Infektion verhinderte.
Zum Ende des ersten Jahrzehnts des 21. Jahrhunderts bilanziert »Science« zudem die wichtigsten wissenschaftlichen Errungenschaften der Dekade. Dazu gehört die Erkenntnis, dass der lange Zeit für nutzlos (Junk-DNA) gehaltene Teil des Erbguts, der keine Gene enthält, offenbar doch eine Funktion besitzt. Denn auch viele Abschnitte dieses »Dunklen Genoms« werden in der Zelle abgelesen.
Große Fortschritte sieht das Journal in der Astronomie, wo nach Ansicht von »Science« die Messungen des letzten Jahrzehnts so perfekt zur bisherigen kosmologischen Theorie passen, dass die als theoretische Hilfskonstruktion eingesetzten Komponenten Dunkle Materie und Dunkle Energie wohl existieren müssten, auch wenn unklar ist, was sich physikalisch dahinter verbirgt. Daneben hebt das Journal die Entdeckung von Wasser auf dem Mars und von inzwischen nahezu 500 Planeten außerhalb unseres Sonnensystems hervor.
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