»zwischenszenen: das volk.«

Neues von Bertolt Brecht: Ein Blick in die bislang unveröffentlichten Notizbücher

  • Klaus Bellin
  • Lesedauer: 6 Min.

Auf der ersten Seite, ganz oben, steht nur ein einziges Wort, ein Name: »Fatzer«. Brecht hat ein neues Heft aufgeschlagen und auf den schwarzen Deckel eine große »8« geritzt. Dieses Notizbuch soll offenbar ganz seinem Stückprojekt dienen, an dem er, wie er Helene Weigel im August 1927 mitteilt, »sehr langsam, aber nicht schlecht« arbeitet.

Auch die zweite Seite bleibt bis auf den Eintrag »zwischenszenen: das volk« leer. Es folgen die Umrisse einer Szene, Dialogsplitter, dazwischen, wieder auf einer sonst unbeschriebenen Seite, ein Berliner Autokennzeichen: »IA 55333«. Allmählich wird die ursprüngliche Bestimmung des Heftes aufgegeben. Das »Fatzer«-Fragment, jetzt auf der Schreibmaschine vorangetrieben, spielt keine Rolle mehr. Der Platz wird nun für anderes genutzt.

Bertolt Brecht feiert in diesem Jahr 1927 seinen 29. Geburtstag. Er lebt spartanisch unter einem Berliner Dach, wohnt ohne Teppiche und Gardinen, dafür gibt es einen massiven Tisch, auf dem die Schreibmaschine thront. Er fährt kreuz und quer durch die Stadt, läuft herum, geht ins Kino, sieht am liebsten Detektivgeschichten und Western, diskutiert, schreibt, verbessert, verwirft, probiert dies und jenes, liest Marx und Engels und wartet auf den Durchbruch.

Noch ist er ein unbekanntes Genie, das man bloß für eine freche, provokante Skandalnudel hält. Von der ungeheuren Kraft, die in ihm steckt, wissen vorläufig nur wenige. Im Sommer 1927, wenn er sich in seiner Heimatstadt Augsburg aufhält, kreuzt er, überredet vom Vater, im Atelier des Hoffotografen Konrad Heßler auf. Von den Bildstudien, die hier entstehen, bleiben 32 Aufnahmen erhalten: Brecht in lässiger Pose, weißes Hemd, Krawatte und langer Ledermantel, zwischen den Lippen oder in der Hand die dicke Zigarre, mal sitzend, mal stehend, mal mit Buch, mal mit einem Notizbüchlein und Füllfederhalter. Der Füllfederhalter ist Staffage. Wenn etwas schnell festgehalten werden soll, genügt meist ein Bleistift.

Seit 1918 verlässt Brecht ohne ein Notizbuch nicht mehr das Haus. Was ihm einfällt, auffällt oder durch den Kopf geht, schreibt er rasch auf. Eins dieser Heftchen hat er stets in der Tasche, in Griffnähe auch nachts. Sie sind der Speicher aller Gedanken, die nicht verloren gehen dürfen, das Reservoir, auf das er jederzeit zurückgreifen kann, die Keimzelle des Werks. Er hat die Kladden gehütet wie einen Schatz, sein Leben lang, auch im Exil. Sie waren das wertvollste Material, das er hatte. So blieben 54 Notizbücher, abgegriffene, mitunter arg zerschlissene, mal in Leder, Kunstleder oder Pappe gebundene Hefte erhalten.

Dieser Schatz liegt seit ewigen Zeiten im Archiv, gesichtet und genutzt vornehmlich von den Wissenschaftlern, die bis 1998 an der Großen kommentierten Berliner und Frankfurter Ausgabe arbeiteten. Einige Strophen, Passagen und Sätze, herausgelöst aus dem Fundus, gelangten damals in einzelne Teile der Edition, ein nicht unbeträchtlicher Rest blieb jedoch, wo er gewesen ist: im Verborgenen. Jetzt kommt auch er an Licht.

Mit Band 7, in großformatiger Broschur gedruckt, eröffnet der Suhrkamp-Verlag die von Martin Kölbel und Peter Villwock besorgte Ausgabe der Notizbücher. 13 Bände sollen es werden. Dann wird, wie es aussieht, auch das letzte große Archiv-Geheimnis gelüftet sein.

Das Notizbuch war für alles da. Es gibt keine Ordnung, keine Regeln. Alles, was Brecht in den Sinn kam, hat hier Platz, mal ein Vers, eine Szene, eine Beobachtung, eine Sentenz, eine Adresse oder Telefonnummer. Gerungen wird um den »Fatzer« und die »Dreigroschenoper«, und nachgedacht wird über ein Rosa-Luxemburg-Stück, das die Zeilen enthalten soll: »Hier ist eine Welt, / sie ist / in Unordnung. / wer also ist bereit + / ordnet sie?« Brecht ist dabei, die Phase der ungestümen Rebellion, der wüsten Revolte hinter sich zu lassen. Er plant eine Revue über Lenin und den Sozialismus und notiert, angelehnt an ein populäres Liedchen, die Zeilen: »das war in leningrad im / monat mai«. Später, 1929, ein neues Stückprojekt, die Geschichte eines Autokäufers, den man übers Ohr gehauen hat. Zur selben Zeit tauchen Überlegungen zu einem Werk auf, das »Der Brotladen« heißen soll und als Opernlibretto gedacht ist. Zwischendurch Verse, dann wieder Namen und Adressen, etwa von Helli (Helene Weigel) in Wien oder Herbert Ihering in Berlin-Zehlendorf.

Da wartet kein Leseabenteuer wie im frühen Tagebuch oder im »Arbeitsjournal«. Hier passiert man einen Steinbruch, ein Geröllfeld von Worten, Versen, Splittern, Notaten, und wir stünden ziemlich ratlos da, hätten die Herausgeber nicht so akribische und bewundernswerte Arbeit geleistet. Respekt verdient ja schon ihre Kunst, diese schwer entzifferbaren Eintragungen zu entziffern. Und das Schöne ist: Man kann ihnen dabei auf die Finger sehen. Der Band zeigt immerhin beides: auf der einen Seite Brechts Handschrift und gegenüber, auf der anderen, die Umschrift. Nur manchmal, in wenigen Fällen, sind Kölbel und Villwock mit ihrem Latein am Ende. Ob Brecht nun, zum Beispiel, einen »grauen« oder »grünen Penis« meinte, können bei aller Anstrengung auch sie nicht entscheiden.

Fantastisch der Anhang des Bandes. Er liefert, neben einer Zeittafel und dem ausführlichen Literaturverzeichnis, auf hundert mit Informationen und Erläuterungen prall gefüllten Seiten das Rüstzeug, das nötig ist, um mit den Notizen etwas anfangen zu können. »über 1 wagen«, schreibt Brecht im 24. Heft. Und darunter: »sein motor ist ein / denkendes erz.« Etwas später der Eintrag: »schwenkachse/ ‚jedes hinterrad schwingt / geteilt für sich / klebt in der kurve.« Und: »3 m langer radstand/ klebt in der kurve.«

Dass hier an ein Auto gedacht wird, ist leicht erkennbar. Den Rest, illustriert mit Berichten von Asja Lacis und Elias Canetti, erklärt der Anhang: Brecht will unbedingt einen Steyr-Wagen, für ihn der »Inbegriff seines Lebensstils«, wie die Herausgeber sagen. Er schreibt ein werbendes Gedicht, erhält als Gegenleistung von der Firma ein Auto, mit dem er allerdings bald einen Unfall baut. Vier Wochen danach hat er freilich schon einen neuen Steyr. Der fällt dann 1933 den Nazis in die Hände.

Braucht man das alles? Keine Frage: Nicht jeder braucht es. Wer sich bei Brecht kaum auskennt, wird dieser Edition kaum etwas abgewinnen. Aber die anderen, die Vertrauten, die Neugierigen, jene, die alles wissen wollen, denen man gar nicht genug bieten kann, werden diese Buchseiten durchforsten und sich freuen, weil sie dem Meister in die Karten blicken können und die wunderbare Gelegenheit erhalten, seinen Gedichten und Stücken, den aufgegebenen und vollendeten Werken auf die Spur zu kommen.

Hier, in diesen hingekritzelten Bemerkungen, Plänen und Entwürfen, ist man den Ursprüngen der Brechtschen Dichtung unglaublich nah.

Bertolt Brecht: Notizbücher 24 und 25. 1927 – 1930. Hg. von Martin Kölbel und Peter Villwock. Suhrkamp Verlag, 539 Seiten, br., 24,90 Euro.

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