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Wer mit Fünf lesen lernen will, dem muss man dabei helfen
Wissenschaftler beklagen mangelndes Wissen über Hochbegabte
Der 20. September 1962? Das war ein Donnerstag. Eine Minute brauchte Gert Mittring, um das auszurechnen. Der amtierende Weltmeister im Kopfrechnen hat im Alter von 12 Jahren eine Formel entwickelt, nach der er in Windeseile für jedes beliebige Datum den Wochentag errechnet. In seiner Schule hat das niemanden interessiert. Mittring galt nach eigenen Angaben als verhaltensauffällig, weil er ständig unterfordert war. Ab der dritten Klasse sollte er deshalb eine Sonderschule besuchen, erzählt er auf dem Podium der »Deutschen Gesellschaft für das hochbegabte Kind« am vergangenen Wochenende in der Berliner Humboldt-Universität. Dem entkam er nur durch Zufall: Weil sein Vater Pfarrer war, nahm ihn eine konfessionelle Schule auf.
Die »Deutsche Gesellschaft für das hochbegabte Kind« hatte mit prominenten Gästen über »Begabungsforschung - Perspektiven für die Schule der Zukunft« diskutiert. Für Kurt Kutzler, den Vizepräsidenten der Hochschulrektorenkonferenz, wurde im deutschen Bildungssystem in den letzten Jahren zwar viel für Kinder getan, die Schwierigkeiten hatten mit dem Lerntempo. »Dabei gerieten jedoch Hochbegabte aus dem Blick.« Zwei Prozent aller Kinder sind hochbegabt. Von einer Hochbegabung spricht man, wenn ein Kind einen Intelligenzquotienten über 130 erreicht. Hochbegabte Kinder sind häufig bereits im Alter von einem bis zwei Jahren ihren Alterskameraden voraus. Sie gelten als individualistisch und haben ein stark ausgeprägtes Gerechtigkeitsempfinden.
Hochbegabte Kinder müssen besonders gefördert werden. »Seien Sie doch froh, ein so kluges Kind zu haben! Worüber machen Sie sich überhaupt Sorgen?« Das sind Reaktionen, mit denen die Eltern hochbegabter Kindern häufig konfrontiert werden. Lernfreude kann auch in Schulfrust umschlagen, wenn ein kleiner Neunmalkluger von Lehrern nicht beachtet oder im Lerneifer gebremst wird. Schulfrust und Lebensuntüchtigkeit sind die Folge. Wohlgemerkt, nicht die automatische Folge einer Hochbegabung, sondern einer unzureichenden Förderung. Um nicht aufzufallen, unterdrücken hochbegabte Kinder oft ihre Leistungen. Das kann auf Dauer persönlichkeitsstörend wirken. Oder sie flüchten sich in die Rolle des Klassenkaspers, zeigen ein problematisches Sozialverhalten.
Dass begabte Kinder nicht beachtet werden, hatte Brandenburgs Bildungsminister Steffen Reiche (SPD) kürzlich beim Besuch einer vierten Klasse im Norden Brandenburgs beobachtet. »Ein Schüler hat einen zweiminütigen Vortrag gehalten über die Konstruktion des schiefen Turms von Pisa«. Er, Reiche, hätte den Eindruck gehabt, die Lehrer hätten allein dem Minister zuliebe die zwei Minuten ertragen. Reiche: »Es gibt ja die Auffassung, weil das noch nicht alle Mitschüler verstehen, gehöre das auch nicht in den Unterricht. Schlechteren Schülern würden durch solche Leistungen schnell ihre Grenzen gezeigt werden, und das sei demotivierend.«
Ebenso wie man leistungsschwache Schüler in ihrer Persönlichkeit annehmen muss, muss man das auch mit Schülern, die zu außergewöhnlichen Leistungen fähig sind. »Es ist ein Skandal, wenn Lehrer sagen, ein bestimmter Schüler gehöre nicht hierher.« Das Land Brandenburg hat kürzlich ein Programm zur Förderung hochbegabter Kinder aufgelegt. Bisher sind jedoch lediglich die Defizite aufgezeigt worden.
Lehrerfortbildungen zum Thema Hochbegabungen gehören dazu. Denn oft werden Hochbegabungen nicht erkannt. Hochbegabte Kinder brauchen Aufgaben, die sie fordern, sagen Wissenschaftler. Begabungen sind lediglich Möglichkeiten zur Leistung, nicht schon die Leistung selbst. »Wenn ein Fünfjähriger lesen lernen will, wehren Eltern und Erzieher oft ab: Wozu soll das Kind jetzt schon lesen können? Er soll lieber an der frischen Luft spielen!« Ein falscher pädagogischer Ansatz, sagt etwa der international anerkannte Spezialist für Hochbegabung Franz J. Mönks aus den Niederlanden. »Die Förderung sollte dort ansetzen, wo die Begierde eines Kindes liegt. Wer mit fünf Jahren lesen lernen will, dem sollte man dabei helfen.«
In Brandenburg werde diese Möglichkeit zu wenig genutzt, heißt es in dem Konzeptionspapier der Landesregierung. Lediglich 1,4 Prozent der Kinder werden vorzeitig eingeschult. Auch die Möglichkeit des Überspringens von Klassen, die von Fachleuten für hochbegabte Kinder als Mittel gegen die Langeweile empfohlen wird, sei Brandenburger Lehrern zu wenig vertraut. Über die Möglichkeit, diese Kinder von der Schule freizustellen, damit sie speziell für sie konzipierte Universitätskurse besuchen können, will man in Brandenburg ebenfalls nachdenken. An der Universität Rostock gibt es das längst.
Viele Lehrer kommen mit den Kleinen, die zwar spielend rechnen und lesen lernen, aber ansonsten das übliche Sozialverhalten eines Fünfjährigen zeigen, nicht klar. Auf eine vorzeitige Einschulung und aufs Springen haben Kinder keinen Rechtsanspruch. Sie setzen das Einverständnis von Schule und Klassenlehrer voraus. Überfüllte Klassen und Lehrermangel sind ebenso ein Hindernis, individuell auf die kleinen Schlaumeier einzugehen wie das Fehlen des Themas Hochbegabung in der Ausbildung von Lehrern. Die vorzeitige Einschulung wird verweigert, wenn beispielsweise ein Steppke, der zwar bereits lesen und rechnen kann, nicht in der Lage ist, seine Schnürsenkel selbst zu binden. Reiche verwies jedoch auch auf Erfolge der Begabungsfindung in seinem Bundesland. »Von fünf deutschen Teilnehmern an der Internationalen Physikolympiade in den letzten Jahren stammten drei aus Brandenburg.« Zumindest auf dem Gebiet der Physik gibt es also jetzt bereits ein effizientes System der Findung von Talenten.
Susanne Lin-Klitzing vom Deutschen Philologenverband forderte, dass in jede Schule ein Psychologe gehört. »Das ist nicht nur notwendig, um Vorfälle wie in Erfurt zu verhindern, sondern auch, um Begabungen zu erkennen und zu fördern.« Förderstunden sollten nicht nur lernschwachen Schülern zugute kommen, sondern auch den stärksten, die ihr Leistungsvermögen anders nicht ausschöpfen könnten. Doch statt Förderstunden auszubauen, würden sie in mehreren Bundesländern zusammengestrichen.
In den letzten Jahren ist das Thema Hochbegabung zwar aus der Tabuzone ein wenig herausgeraten, aber nach wie vor fehlen die entsprechenden Strukturen. Seit einigen Monaten gibt es an der Universität Münster das Internationale Zentrum für Begabungsförderung, bundesweit eine einmalige Einrichtung. Wollen sich Lehrer dort fortbilden...
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