Die Sehnsucht, ein »Opfer« zu sein

Der »Fall Wilkomirski« und die Folgen

  • Gunnar Decker
  • Lesedauer: ca. 9.5 Min.
Aufklärung tut weh. Das ist das etwas in Vergessenheit geratene Wesen von Aufklärung: Sie zertrümmert Vorurteile, Rituale, Klischees. Wo sich andere zurücklehnen und sich in ihrer Rolle des (Selbst-)Gerechten wohl fühlen, muss der Aufklärer die Bürde des Spielverderbers auf sich nehmen. In der Mystik der ostjüdischen Chassidim gibt es den Zaddik, einen Gerechten, der darauf beharrt, ein weiser Narr zu bleiben, der darauf verzichtet, seine Weisheit mit Macht, Amt, Würden und Geld als Festung auszubauen. Weil sie ihm teuer ist. Unbezahlbar. Denn er dient allein der Autorität des Wortes als geistiger Brücke zwischen Mensch und Gott. Nach dem richtigen (authentischen) Ausdruck suchen also heißt hier immer auch, Wahrheit suchen, Gott im Geist - nicht in den Buchstaben - des Wortes erkennen. Daran gemessen ist alle weltliche Autorität Anmaßung, Respektlosigkeit dem Geistigen gegenüber. Wir leben inmitten dieser herrschenden Respektlosigkeit. Darum ist es ein großer Irrtum zu meinen, heute gehöre kein Mut mehr dazu, immer wieder die Wahrheit zu suchen. Denn Suchen ist das Gegenteil von Verkünden. Voller Irrtümer und Umwege. Ganz nüchtern. Ohne Schulterklopfen von denen, die Wahrheit für etwas halten, was nur dazu dient, sie zu bestätigen. Wahrheit dient überhaupt keinem Zweck, keinem großen oder kleinem, sie ist einfach sie selbst. Das verkauft sich schlecht, denn es verstört den Kunden, behindert den Konsum, für den alles mundgerecht zubereitet wird, simpel und eingängig, ja nicht kompliziert und irritierend. Wahrheit bleibt der Sand im Getriebe aller selbstläufigen Gegenwart. Denkarbeit, die das bloße Meinen (Anti-Aufklärung also), auch das Gut-Meinen hinter sich lässt. Als Max Picard 1946 sein Buch »Hitler in uns selbst« veröffentlichte, war die Reaktion unter den Deutschen wütende Abwehr. Etwas in uns sollte dem entsprochen haben, was da im Namen Hitlers an Unglück über die Welt gebracht wurde? Es war doch Hitler und nicht wir. Es ist ein Selbstbehauptungs-Reflex, von außen herangetragene Schuld zurückzuweisen und nach Gründen zu suchen, warum man selber eher Opfer als Täter ist. So können wir es durch die ganze jüngere Geschichte verfolgen. Jenseits des juristisch Einklagbaren, im Bereich des Moralischen also, muss jeder über sich selbst Gerichtstag halten. Es ist sogar der innerste Wesenskern von Vernunft: über sich selbst zu richten. Moralisch über andere zu Gericht zu sitzen, artet schnell aus in eine Farce oder Kampagne, die so nur Abwehr gegen strenge Selbstbefragung bestärkt. Opfer wird man in einer ganz bestimmten Situation. Von Kriminalität, Politik, Krieg oder Seuchen. Davor hat jeder Angst. Opfer zu sein, ist mit Leid, Schmerz, Demütigung verbunden. Und dennoch, hat man den Eindruck, ist eine Identifikation mit der Opferrolle attraktiv, wird gesellschaftlich honoriert. Aus dem Zum-Opfer-geworden-Sein, dem schlimmen Ereignis, wächst eine Stellvertreter-Identität. Das Täter-Opfer-Schema erscheint mythisch überhöht, aus jedem konkreten Zusammenhang herausgerissen: eine Glaubensfrage. Die mediale Zurschaustellung reduziert die Person dann nur noch auf ihre Opfer-Eignung. Ein Markenartikel im Medienzirkus. Theresia Walser hat mit ihrem Stück »Die Heldin von Potsdam« am Berliner Gorki-Theater gezeigt, dass es geradezu eine mediale Einladung zum Für-die-Opfer-Sprechen gibt, weil man damit ganz automatisch moralisch auf der richtigen Seite steht. Wer sich lebenslang auf eine Opferrolle festlegen lässt, der will sich unangreifbar machen, der will weder, dass er sich selbst begegnet, noch dass wir ihm begegnen. Gilt das auch für Auschwitz-Überlebende? Nein, hier liegt der Fall anders. Es gibt diese harte Nüchternheit der Überlebenden aus den KZs, die nach der Befreiung nur eins wollten: nun nicht mehr Opfer sein, ein neues selbstbestimmtes Leben führen, die Chance auf einen sinnvollen Anfang (Zukunft!) trotz aller Beschädigungen nutzen. Die Fragen nach der seelischen Befindlichkeit, das Bedürfnis nach psychologischer Offenlegung ist eher eine Reaktion der Kindergeneration dieser Überlebenden. Sie wollen das nachholen, was sich ihre Eltern verboten haben, um überhaupt weiterleben zu können: den Schmerz fühlen, die Dimension des Ungeheuerlichen, des Zivilisationsbruchs, auch emotional erfahrbar machen. Ein verständliches Bedürfnis. Jedoch öffnet die Emotionalisierung der Geschichte eines systematischen Massenmords auch die Tür für jede Art von Seelenkitsch. In diese Situation hinein traf 1995 ein bei Suhrkamp erschienenes Buch: Binjamin Wilkomirskis »Bruchstücke«. Ein frühkindlicher Bericht, eine Form psychoanalytischer Geschichtsschreibung. Wilkomirski »erinnert« sich, wie er, das Kind jüdischer Eltern aus Riga, als Kleinkind nach Auschwitz und Majdanek kam, überlebte und über ein Waisenhaus in Krakow in eine großbürgerliche Schweizer Pflegefamilie gelangte, wo er sich aber unglücklich und fremd fühlte, weil man ihm verbot, sich zu erinnern. Schweizer Geld-Bürgertum mit Herzenskälte und Erinnerungsverboten ausgestattet! Das traf den Nerv einer Schweizer Selbstverständigungs-Debatte Mitte der 90er Jahre. Wilkomirski selbst lebte inzwischen als wohlhabender Mann vom Erbe seiner Adoptiveltern, war Klarinettenlehrer bei Zürich. Sein »Erinnerungsbericht« wurde als einmaliges autobiografisches Zeugnis gefeiert. Ein Literatur-Preis jagte den anderen. Bis der Schweizer Schriftsteller Daniel Ganzfried, dessen Vater Auschwitz überlebt hatte, den Auftrag bekam, etwas Rühmendes über Wilkomirski zu schreiben. Er recherchierte und kam zu einem unrühmlichen Ergebnis: Alles gelogen. Wilkomirski ist ein Psychopath, der sich eine Kindheit in Auschwitz und Majdanek zusammenfantasiert hatte: ein 1941 als Bruno Grosjean in der Schweiz geborenes uneheliches Kind, das zur Adoption freigegeben wurde und als Bruno Dössekker aufwuchs. Mit diesem banalen Fortgegeben-Werden konnte er nicht leben und gab seinem unbehausten Leiden den Namen des größtmöglichen Schreckensorts, den sich Menschen antun können: Auschwitz. Dort sah er seinen biografischen Ursprung. Ein Kind, das aus der Hölle kam. So hat er sich gefühlt und darum sich diese Vernichtungsstätten als szenische Kulisse seines privaten Albtraums gewählt. Ein notorischer Lügner, ein Schelm, der sich eine Biografie imaginiert - so etwas gibt es in der Literaturgeschichte nicht selten. Aber die betreffenden Autoren hatten Talent, während Wilkomirskis Buch allein vom moralischen Opfer-Kredit lebte. Eine Blase, die schnell platzte. Zurück blieb ein Buch, das besser ungedruckt geblieben wäre. Öffentliches Interesse erlangt der »Fall Wilkomirski« erst dadurch, dass hier mittels Literaturagentur und eines renommierten Verlages die »Bruchstücke« zur beispielhaften Auschwitz-Dokumentation aus frühkindlicher Sicht ausgerufen wurden. Da geht es dann nicht mehr um die Person Wilkomirski, sondern darum, wie ein Bestseller gemacht wird, ohne Rücksicht auf die Wahrheit. Über den »Fall Wilkomirski« im engeren Sinne müssten wir also nicht so ausführlich reden, würfe er nicht ein Schlaglicht auf unsere Mediengesellschaft, in der Wahrheit immer mehr zu einem »Als ob«-Artikel wird. Es sieht so aus wie, es fühlt sich an als ob - mit dieser Virtualisierung ist nun auch Geschichtsschreibung konfrontiert. Fast echt eben, aber nicht ganz. Was geschah, als der Skandal sich nicht mehr vertuschen ließ? Unmittelbar nach Ganzfrieds Aufdeckung der »Holocaust-Travestie« Wilkomirskis wurde Ganzfried selbst von einigen so behandelt, wie echte Aufklärer nicht selten behandelt werden: als Nestbeschmutzer. Er arbeite rechtsradikaler Ideologie in die Hände. Als wenn das Faktische der Judenvernichtung als NS-Programm und Realität noch irgendwie anzweifelbar wäre und das Bloßstellen nachweislich gefälschter Dokumente darum einer Geschichtsfälschung Vorschub leiste. Das Gegenteil ist der Fall. Der Fall Wilkomirski ist ein Präzendenzfall geworden. Dafür, wie weit unsere Wahrheitspassion wirklich reicht. Auch bis dorthin, wo es weh tut, wo man uns vorwirft, wir schaden der guten und nützen einer schlechten Sache? Da wird Wahrheit wieder zur Gewissensentscheidung. Nun sind zwei höchst gedankenreiche Bücher zu diesem Thema erschienen, die sich nicht auf polemische Schuldzuweisungen reduzieren lassen wollen, sondern den Mechanismen unserer Medienwirklichkeit nachspüren, wenn es um Wahrheit und Geschichte geht - und nebenbei noch um Geschäftemacherei. Von Daniel Ganzfried »... alias Wilkomirski. Die Holocaust-Travestie«, herausgegeben von Sebastian Hefti im Auftrag des Deutschschweizer PEN-Zentrums, und »Das Wilkomirski-Syndrom. Eingebildete Erinnerungen oder Von der Sehnsucht, ein Opfer zu sein«, Sammelband über eine Tagung im Potsdamer Moses Mendelssohn Zentrum, herausgegeben von Irene Diekmann und Julius. H. Schoeps. Das Fazit der hier versammelten Autoren: Authentisches passt in kein Klischee, es zeichnet sich dadurch aus, dass es sich einer generellen Erwartungshaltung gegenüber um eine entscheidende Nuance anders darstellt. Darum interessieren wir uns ja für die Geschichten Einzelner, aus denen Geschichte besteht. Denn jeder erinnert sich an ein Ereignis anders. Die Theresienstadt-Überlebende Ruth Klüger: »Die Autobiographie ist die subjektivste Form von Geschichtsschreibung. Autobiographie ist Geschichte in der Ich-Form.« Immer also wird auch das Bild des Geschehenen vom Berichtenden mitbestimmt. In dieser Spanne von Ereignis und Bericht - Interpretation! - liegt ja gerade das, was uns, über das Faktische hinausgehend, Geschichte zu vergegenwärtigen vermag. Wenn ein Zeuge nichts zu bezeugen hat, er nur das von sich gibt, wie er sich im Allgemeinen vorstellt, so könnte es gewesen sein, dann ist sein Zeugnis nicht nur nichts wert, es ist schädlich. Da werden Klischees produziert, Gefühlskitsch eines Stellvertreterschauplatzes, dem der eigentliche Erfahrungskern fehlt. Ganzfried: »Die Erinnerung vergegenwärtigt das Ereignis. Ihr Instrument ist das Denken. Das Gegenteil von Erinnern ist nicht das Vergessen. Ihr Gegenteil ist das Nicht-Denken. Ein Ereignis, über das wir nicht nachzudenken bereit sind, wird zum toten Bild, zum Fetisch, und das Erinnern also zum erstarrten Ritual. Mitunter erleben wir es auch als lärmende Kampagne wie im "Fall Wilkomirski". Beides kommt dem Vergessen beängstigend nahe.« Und Irene Diekmann und Julius H. Schoeps konstatieren im Vorwort ihres Bandes: »Der Peinlichkeiten sind kein Ende. Und, was ebenfalls deutlich wird, die Verkrampftheit im Umgang mit der NS-Vergangenheit nimmt mittlerweile Dimensionen an, die ein unvoreingenommener Betrachter nur noch als krankhaft bezeichnen kann.« Bücher von Primo Levi oder Jorge Semprun, auch Bruno Apitz »Nackt unter Wölfen« besitzen diesen echten Erfahrungskern. Wer ihn imaginiert, muss das kenntlich machen. Dann aber sind es keine Erinnerungen, Zeugenberichte, Dokumente einer Zeit mehr, sondern fiktionale Geschichten, die auch ihren Wahrheitswert haben können, jedoch nicht, indem sie suggerieren, der Autor habe alles, was er schreibt, auch selbst erlebt. Manche sagen, hätte Wilkomirski nur gleich deutlich geschrieben, es handele sich um seine Albträume und darauf verzichtet, sich eine zu diesen passende Biografie zu erfinden, wäre schon alles in Ordnung. Aber dann wäre das Buch in seiner ganzen sentimentalen Kümmerlichkeit kaum zu verkaufen gewesen. Ein Autor aber, der immer weint und Klarinette spielt, wenn ihn die »Erinnerung« überfällt, gehörte zur zynischen Verkaufsstrategie. Ganzfried schreibt, Wilkomirski sei wohl an allen Züricher Schulen gewesen, um von Auschwitz und Majdanek zu erzählen und die Schüler seien jedesmal tief betroffen nach Hause gegangen. Vor allem aber ist es ein Buch für den amerikanischen Markt gewesen. In Deutschland hat man es nur mäßig verkauft, in Israel ganz schlecht. Ruth Klüger: »Es ist das Merkmal des Kitsches, dass er plausibel ist, allzu plausibel, und dass man ihn nur dann ablehnt, wenn man seine Pseudoplausibilität erkennt.« Was Überlebende sofort stutzig machte, war die Weinerlichkeit Wilkomirskis, der keinen seiner Auftritte ohne Tränenausbrüche absolvierte, und die Art, wie er Gewaltszenen schildert. Der Auschwitz-Überlebende Imre Kertész: »Es ist schlimm, dass immer larmoyanter Personengeschichte betrieben wird.« Man ist versucht zu sagen, Wilkomirski verhielt sich drehbuchreif. So platt wie Hollywoods Mainstreamkino das Opfer-Bild reproduziert. Wenn er sich an eine blutige Ratte »erinnert«, die aus dem toten Leib einer Schwangeren kriecht, erwecken diese und ähnliche Ausmalungen geradezu den Eindruck von Genüsslichkeit, als ob sich der Autor daran sexuell erregen würde. Ganzfried hat seine drei Kardinaleinwände gegen den Text so formuliert: »1.Das Kind, ein Opfer, das beides bleibt, Kind und Opfer, für den Rest seines Lebens. 2. Der nie endende Holocaust, einmal in Auschwitz, bleibt man dort drin, für immer, gleichgültig, was man tut oder was einem geschieht, was bedeutet, dass das Opfer für das weitere Leben eine kranke Person ist, Beute für Psychoanalytiker und Therapeuten. 3. Die Pornografie der Gewalt, den Holocaust betreffend.« Das ist das Grundproblem von Geschichtsschreibung heute, wenn sie populär sein will. Sie rechnet nicht mehr mit dem selbständig-nachdenklichen Leser (das eben rechnet sich nicht), sondern will Geschichte »erlebbar«, zum sentimentalen, schauerlichen oder erbaulichen Event machen, das man dann wie eine x-beliebige Ware verkaufen kann. An Auschwitz, dem Extremfall von Geschichte, wird die Obszönität, die herrschende Gedankenarmut und Gefühlskälte um so augenfälliger, je ...

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