Geschmetterter Jungfernkranz
»Der Freischuss« in der Neuköllner Oper nach Webers »Freischütz«
Jan Müller-Wielands Musik nach Webers »Freischütz« ist mit ihren harten Schnitten und schrillen Momenten so gut wie originell. Ebenso gelungen ist die Umsetzung des Fünf-Instrumente-Orchesters durch Hans-Peter Kirchberg. Insofern geht die Hoffnung an der Neuköllner Oper auf, mit der neuen Inszenierung von Gustav Rueb »Der Freischuss. Ein Stück Gegenwart« ins Schwarze zu treffen. Auch die gesangliche Arbeit ist gekonnt.
Der »Jungfernkranz« wird von Orchester und Sängern geschmettert. Besser kann man die Geschichte vom »Lied der Brautjungfern« nicht charakterisieren. Denn kaum war Carl-Maria von Webers Oper 1821 – vom Meister selbst dirigiert – in Berlin uraufgeführt worden, da trällerte man die Melodie an jeder Ecke und schuf bald Parodien. Heinrich Heine schrieb in seinen »Briefen aus Berlin«, er fühle sich vom »Jungfernkranz« geradezu verfolgt. Galt Webers Werk sofort als National- und Volksoper der Deutschen, in der das Gute über das Böse triumphiert, es hatte auch umgehend ein Volkslied hervorgebracht.
Die »Freischuss«-Gegenwart der neuen Produktion in der Karl-Marx-Straße ist Neukölln, für die Luise Rist den Text erdachte. Max (Ilja Martin Schwärsky) trifft im U-Bahnhof Linn (Ulrike Schwab) aus Mitte und verliebt sich sofort. Max will ohnehin heraus aus seinem Milieu und sich gegen alles wenden, was da schief läuft. Sein Vorsatz, Polizist zu werden, erfüllt sich. Das reicht ihm nicht. Er will eingreifen, dabei sein, wenn es noch etwas zu verhindern gibt. Das SEK ist sein Ziel.
Sein Kumpel Tom (Victor Petitjean) sieht das anders. Mit Karriere verkaufe man seine Seele, meint er. Er denkt an sich. Der Vater der gut situierten Linn, den Max später als Menschen- und Waffenhändler erkennt, zog Tom längst in dunkle Geschäfte. Der alte, gut organisierte Verbrecher (Friedhelm Ptok) symbolisiert auch den in Webers Oper das Böse wie die Finsternis darstellenden Samiel, der hier von Tom immer neue Opfer fordert.
All das ist gut zu verfolgen. Auch die Einsätze der immer wieder neue Fragen aufwerfenden Leonie (Nora Leschkowitz) sind klug gewählt. Seelische Erschütterungen, die Max mit wachsender Erkenntnis durchlebt, lassen sich mit dem, was er als seine neuen Ansprüche formuliert hat, immer im Vergleich sehen. So auch die Anforderungen, mit denen ihn sein Vorgesetzter im Revier (Thorsten Loeb) konfrontierte und ihn auf das Grundgesetz schwören ließ. Dieser Schwur kommt Max bei der albtraumhaften, fantasiereich umgesetzten nächtlichen Szene in finsterer Schlucht wieder in den Sinn. Soll das ein Witz sein? Gelacht hat bei der Premiere niemand. An dieser Stelle mit plötzlich hölzernem Stücktext geht der Schuss nach hinten los. Wer bitte philosophiert in einem Moment, in dem es für ihn um Leben und Tod geht, über das Grundgesetz und den Wert von Demokratie?
Wie eine Schlucht trennt bei dieser Inszenierung auch die Arbeit von Emily Laumanns. Ihr Bühnenbild ist einfallsreich, extravagant für die Möglichkeiten der Neuköllner Oper. Ihre Kostüme dagegen lassen – bis auf Samiels Kleider – Pfiff vermissen. Misslungen, kann man sagen. Alle Nachteile, die ein menschlicher Körperbau zu bieten hat, werden zumeist betont. Man muss nicht kaschieren, kann in dieser Hinsicht durchaus ehrliche Kostüme machen, ohne, dass es nachteilig für die Beteiligten wirkt. Hier geschieht es nachlässig. Das haben die Sänger nicht verdient.
Die von der Senatskulturverwaltung geförderte und vom Kulturnetzwerk Neukölln unterstützte, samt Pause zweistündige Produktion passt gut in die Zeit. Bernhard Glocksin, künstlerischer Chef der Neuköllner Oper, verbindet das Motiv für den »Freischuss« mit Lebensfragen, die sich schon vor der Tür des Musiktheaters stellen. Um die hat sich die Neuköllner Oper noch nie gedrückt.
22., 23., 27.-30.1. und weiter bis 27.2., 20 Uhr, Neuköllner Oper, Karl-Marx-Straße 131, Neukölln, Karten und Infos unter Tel.: 68 89 07 77, und online unter www.neukoellneroper.de
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