Ausloten von Grenzen im Tanz
»Schlechte Angewohnheiten« untersucht das Context-Festival im Hebbel am Ufer
Jeder hat sie, keiner mag sie am Anderen, mag noch weniger sich selbst die eigenen einzugestehen: schlechte Angewohnheiten. Das Hebbel am Ufer widmet ihnen ein ganzes Festival. Freilich geht es nicht um üble Privatmanieren, sondern um das, was etwa im Tanz stört. Das ist so subjektiv, dass eine Debatte kaum lohnt. Recht hat Kuratorin Pirkko Husemann dennoch, wenn sie, Pierre Bourdieu zitierend, den Begriff des Habitus bemüht. Ihn legen beim Individuum soziale Gepflogenheiten fest: wie man sich der allgemeinen Ansicht nach richtig verhält. Zum anderen prägen die Verhaltensweisen vieler das persönliche Auftreten. Und das schlägt sich auch bei jenen nieder, die sich auf eine Bühne begeben. Was aber sind dort »Schlechte Angewohnheiten«, wie nun das Festival »Context 8« heißt? Wie sollte Tanz idealerweise ausschauen: von anderen Sparten »bereinigt« oder in Verknüpfung mit ihnen, virtuos oder minimalistisch, was ist zulässig, was nicht? An sieben Tage suchen Choreografen und Theoretiker nach Antworten.
Am Anfang des Parcours stand Emanuel Gat Dance aus Israel. Die 2004 gegründete, seit 2007 im französischen Istres ansässige Compagnie verfugte nahtlos zwei Choreografien ihres Gründers, der sein Rüstzeug in der Liat Dror Nir Ben Gal Company erwarb. »Silent Ballet« schickt acht Tänzer, darunter zwei Frauen, in gänzlich entkleidetem Raum auf eine musiklose Reise durch das, was sie trotzdem an Gemeinschaftsgefühl in sich tragen. Wie im Gänsemarsch treten sie auf, einer scheint der Kommandant. Dann entfaltet sich eine halbe Stunde lang ein dichtes Miteinander, vom wandernden Pulk bis zur Einzelaktion, in perfektem Timing und voller Bezüglichkeit. Selten nur reißt der Blickkontakt ab. Die setzen Folklore ein und stehen für Momente besonderer Innigkeit. In all der geschmeidigen Körperdynamik überrascht der Buddha-Sitz einer Tänzerin, die lange unbewegtes, strikt beschütztes Zentrum bleibt. Höhepunkt ist der Tanz zweier Männer, in dem Pan Sun Kim durch waghalsig fliegende Umhebungen brilliert.
Glanzstück des Abends ist das knapp einstündige Duo von Roy Assaf und Emanuel Gat selbst. Ihre »Winter Variations« basieren auf einem erfolgreichen Duett zu drei Liedern aus Schuberts »Winterreise« und wurden experimentierend aufgestockt zu einem Stück um die harmonische Beziehung zweier Männer. Flüssig und fast ohne Stillstand vollzieht sich ihr Tanz, bleibt leise und ganz unangestrengt, durchwirbelt den Raum und erzählt viel vom Miteinander zweier gleichgestimmter Seelen. Im Grunde dominiert der Tanz, sichtlich aus derselben »Werkstatt« wie beim »Silent Ballet«, die Struktur; die Musik kommt als Ornament hinzu. Beim Schubert-Lied vom Leierkastenmann und seinem leeren Teller ist Suche nach dem Anderen das Thema, mit dem Mut auch zur Pause vor neuem Anlauf. Aktiv in den Raum hinein gehen die Teile zu Titeln der Beatles und, den Wiegegestus orientalischer Musik exzellent aufgreifend, eines ägyptischen Sängers. Im Mahler-Lied um Herbstnebel und Einsamkeit als Finale übt sich der Tanz bisweilen in eigenen Wegen, ehe er ein sensibles Schlussbild findet.
Mit auf die Suche nach den »Schlechten Angewohnheiten« auf der Bühne begeben sich auch Anat Eisenberg & Mirko Winkel mit der Uraufführung »Republic 1-4«. Ob die Performance die Bühne bestimmt oder umgekehrt, fragen sie darin. Enfant terrible Ann Liv Young aus New York spielt als »Cinderella« weibliche Macht aus; Xavier Le Roy aus Montpellier spiegelt zusammen mit sieben Akteuren tänzerisch wie verbal die Gemeinschaft von Körpern.
Bis 29.1., Hebbel am Ufer, Kreuzberg, Tel.: 25 90 04 27, Infos unter: www.hebbel-am-ufer.de
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