Liebe unterm Banner von Mord & Totschlag
Der Dichter Thomas Bernhard wäre heute achtzig Jahre alt geworden
BE-Direktor Claus Peymann über den Dichter,
der sein Theaterleben wesentlich prägte.
Ein Schweizer Literaturwissenschaftler schrieb an einem Buch über Thomas Bernhard und wurde von dem Dichter auf dessen kleine Hütte im Aubachtal eingeladen. Der Germanist konnte die Kuhglocken nicht ertragen, nachts kroch er los und entfernte sie von den Hälsen der Tiere. Die Bauern stürmten wutentbrannt zu Bernhard, er sei wohl verrückt geworden, die Kühe seien unauffindbar und stürzten in die Schluchten. Also wurden die Glocken wieder umgehängt. Aber der Germanist ließ nicht locker, er umwickelte sie nun mit schwarzem Isolierband. Wieder Tumult. Irgendwann später sind Bernhard und ich in die Hütte gegangen, der Germanist war entnervt geflohen, die Bude übersät von kleinen Manuskriptseiten, an denen schon die Mäuse genagt hatten. Bernhard kroch auf dem Fußboden herum und sicherte sozusagen die eigenen Spuren. Es war eine völlig groteske Situation. Sie hatte etwas von jener Weltverkehrtheit, in der Bernhard zu Hause war. Er besaß das Talent, ständig auf Szenen und Stimmungen zu stoßen, die geradezu darum buhlten, seinem Weltbild zu dienen. Wenn man das Universum Bernhards betreten hatte, spürte man Todesvögel mit den Flügeln schlagen, fühlte sich in der Lust, jetzt unbedingt von Katastrophen und Unglücksfällen zu erzählen. »Nur die Hoffnungslosigkeit macht alles erträglich«, heißt es im »Weltverbesserer«. Wenn man in diesen Kreis eingetaucht war, wunderte man sich überhaupt nicht mehr, dass ausgerechnet in einer Papierfabrik, in deren Kantine ich in der ersten Nacht unserer Bekanntschaft mit Bernhard gegessen und getrunken hatte, eines Tages der Fahrstuhl mit fünf Arbeitern in die Tiefe gekracht war ...
Er war die reine mönchische Strenge, aber eigentlich ohne jede Kultur; er aß nie luxuriös, und zu Hause bei ihm war alles eher karg. Er servierte einem diese dreieckigen Emmentaler, diese Schmelzkäse-Standards, das war's dann. Oder unerträgliche Pasteten. Und das trotz einer höchst herrschaftlichen Küche, in der jedoch niemals gekocht wurde. In Wien spielte er den Gentleman, mit Tüchlein im Jackett, auf dem Lande kam er einem als Kerl mit Gummistiefeln und Lederhosen entgegen. Er genoss es, Leute zu verunsichern, sie hilflos und ratlos ihm gegenüber zu machen. Er spielte Lebenstheater.
Am Anfang konnte ich Thomas Bernhard nur per Telegramm erreichen oder im Rathaus-Café in Gmunden anrufen. So entstand eine regelrechte Telegramm-Kultur zwischen uns. Später gab es sowohl auf der Kruka, seinem Hof, ein Telefon als auch in seinen Häusern. Mit der größeren Nähe kam Vertrauen, wir versuchten sogar mal, zusammen Ferien zu machen. Das endete aber schon am ersten Tag mit einem Debakel. Wir fuhren nach Korsika, mieteten gemeinsam ein Haus. Nach dem Frühstück, von halb neun an, war Strand angesagt, halb zwölf Mittagessen. Ich machte den Einwurf, das sei doch zu früh, woher sollte denn der Hunger so schnell kommen. Bernhard sagte nur, ich könne offenbar mein Leben nicht planen: also raus! So war der Urlaub quasi nach Sekunden zu Ende. Solche Strafen zog er rücksichtslos durch. Ich weiß nicht, ob er diese Ablehnung, diese unbedingte Gegnerschaft zu vielem und vielen als Impuls für die eigene Kreativität brauchte, es ist zumindest denkbar. Zwischen uns war alles aufwendig und verrückt. Wenn ich fünf Minuten zu spät ins Gmundner Rathaus-Café kam, war das nicht mehr abzuarbeiten. Die Ungnade fiel zuweilen so stark aus, dass er ohne Gespräch gleich wieder nach Hause fuhr. Meine Stunde schlug nur am Tag einer Premiere – dann war ich plötzlich der König. Er hat mir sein jeweils neues Stück stets erst beim Abschied des dafür anberaumten Treffens gegeben. Wehe, wenn zwischen meiner Abfahrt und der Reaktion aufs Stück mal ein Tag lag – das war die Hölle. Ich hatte dann Mühe zu verhindern, dass er mir alle Lizenzen entzog. Er gab mir seine Stücke übrigens, ohne je anzufangen, sich sofort auch in die Interpretationsarbeit der Theaterleute einzumischen. Brecht war ein großer Dramatiker und hat auf der Probe geändert. Bernhard war ein großer Dramatiker und nahm die Probe gar nicht wahr.
Bernhard und Bernhard Minetti – das war eine der rätselhaftesten und zugleich klarsten Verbindungen zwischen einem Schriftsteller und einem Schauspieler. Der Minetti war nach einem zweistündigen Gespräch mit dem Bernhard wie erschlagen: Mich hat ein Blitz getroffen, sagte er, es ist unheimlich. Zwei in einem schrecklichen und schönen Sinne Herr-Menschen. Mit scheinbar kalten Augen und mit dieser Unerbittlichkeit, vor der Menschen auch Angst haben können, und dies mit Recht. Beide waren nicht ungefährlich, in ihrem Absolutheitsanspruch auch furchterregende, mitunter nicht sehr angenehme Charaktere. Im »Weltverbesserer«, einem Stück, für Minetti geschrieben, macht Bernhard die Summe dessen auf, was der große Alte bis dahin gespielt hatte: der in Zerfall geratende Mensch, die beckettschen Einsamkeiten, die klassischen Wortkaskaden; eine Schichtung von zwei, drei Figuren in einer, und immer macht eine die andere sichtbar und lässt sie auch wieder verschwimmen. »Ich höre mein Ich über mir, entfernt, schweben, im Raum existieren. Sehr seltsam.« Wunderbar.
Als ich 1986 von Bochum nach Wien ging, wollte ich eine Fahne auf dem Dach des Theaters montieren, darauf: »Burgtheater«. Bernhard fand mich fürchterlich bieder. Er machte einen eigenen Vorschlag: »Mord und Totschlag!« sollte auf der Fahne stehen. Es ginge im Theater und im Leben doch immer nur darum, vor, auf und hinter allen Bühnen. Er prophezeite mir, die Stadt würde kopfstehen. Das gefiele ihm. Ich aber war zu ängstlich. Als wir mit seinem »Theatermacher« in Wien starteten, sah er das »Burgtheater« auf dem Dach flattern und kündigte mir sofort mal wieder die Freundschaft. Er nannte mich einen Feigling. Und hatte recht.
Die Frage ist noch immer, wie man diese monochromen, magischen Litaneien von Bernhard inszeniert. Im Stakkato des Rap? So ähnlich las Bernhard selber: gleichförmig, schnell, rhythmisch. Er offenbarte ein tonloses Desinteresse an seinen Schöpfungen, so las auch Heiner Müller seine eigenen Texte. Er überantwortete sie total dem Hörenden, so sanken sie tiefer und tiefer in uns, und wir konnten staunen, wie tief etwas in uns sinken kann, wenn es nicht ständig mit Rudern der Bedeutung schlägt … Ich träume manchmal noch von Thomas Bernhard. Und zwar, dass sein Tod eine Täuschung war. Er hat die Welt gefoppt, ist ihrem Rummel entkommen, um sie im Verborgenen weiter liebevollst zu verachten. Nur drei Leute standen 1989 am Grab dieses Weltdichters, damit hat er den Staat noch einmal, wahrlich unsterblich blamiert.
Das Duo
So wie der dunkelste, hellsichtigste Philosoph unter den Aphoristikern, E. M. Cioran, von chronischer Schlaflosigkeit sehr unmittelbar auf die faszinierend verfluchten Grundbausteine der Existenz stieß, so war auch der lungenkranke, sich stets auf Abruf fühlende Thomas Bernhard ein Poet durch bittere Erfahrung. Freilich: Schmerzschreie allein fügen sich nicht zum Wort, das die Welt angeht. Wäre es anders, bildeten Poeten keine Minderheit ...
Der Dramatiker und Erzähler Thomas Bernhard, der heute achtzig wäre, war Österreichs unerbittlichster Hasser – weil er liebte, was ein Land sein könnte, wenn es nicht auch Staat wäre. Galle war ihm süß, weil ihm aller falsche Schmelz über Geboten und Ordnungen, über Sozialromantik und Vernunftphrasen ein Greuel war.
Fünfzehn Stücke schrieb er in fünfzehn Jahren, Traktate über den sich im Höheren lächerlich machenden Menschen. Kaltglitzernd böse Schauspieler-Großerlebnisse: Minetti, Ritter, Dene, Voss, Buhre, Böwe, Holtz, Bierbichler, Kirchner. Uraufführungen lagen meist in den Händen von Claus Peymann. Eine noch immer faszinierende Künstlerbeziehung des 20. Jahrhunderts; »naturgemäß« (ein Lieblingswort Bernhards) dramatisch, närrisch. Bernhard starb im Februar 1989, kurz nach der Uraufführung von »Heldenplatz« an Wiens Burg, Bernhard und Peymann rissen die Verdrängungswunde auf, unter deren sachertortenbestrichener Narbe noch immer österreichischer Nazismus schwärte. Das Land hatte den größten Skandal seiner Geschichte. hds
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