Wider Kohle, Kommerz und Konkurrenz
Im SO 36 in Kreuzberg findet am Mittwochabend wieder der monatliche Nachtflohmarkt statt
Es herrscht ohrenbetäubender Lärm in der Arztpraxis. Andreas Wallbaum aber sitzt ruhig an seinem Tisch. Er trägt einen langen, weißen Kittel, an der linken Brusttasche ist in roter Farbe etwas eingestickt: »Dr. Hartz«. Unter diesem Namen ist Wallbaum bekannt. Er hat nie Medizin studiert, sondern berät Arbeitslose, wie hier auf dem Nachtflohmarkt im alternativen Klub SO 36. Der Schuppen in Kreuzberg verwandelt sich einmal pro Monat, so auch am morgigen Mittwochabend, in eine kleine Einkaufsmeile. Die Gänge zwischen den Tischen sind keine zwei Meter breit, vor allem junge Leute drängeln sich. Zwischen 20 und 23 Uhr werden Bücher, Kleider oder Sammlerstücke verkauft – wie auf jedem anderen Flohmarkt. Und doch ist der Flohmarkt im SO 36 etwas anderes. Hier geht es nicht um Kohle, Kommerz und Konkurrenz. Hier geht es um Freude, Freundschaft und Freiheit.
Die Bühne, auf der sonst Musikbands auftreten, wird zur offenen Arztpraxis samt Wartezimmer. An zwei Tischen sitzen Menschen, die sich von Dr. Hartz kostenlos beraten lassen wollen. Als Warteliste dient ein Notizblock, mit dem normalerweise Kellner die Bestellungen aufnehmen. Drei Namen stehen darauf. Eine Frau kommt zum Tisch von Dr. Hartz, beugt sich nach vorn und stützt sich mit ihrer Hand an der Stuhllehne ab. »Ich hätte mal eine kurze Frage«, sagt sie. Wenige Sekunden später setzt sie sich auf den freien Stuhl und lässt sich beraten. Eine Viertelstunde lang reden die beiden über das nächste Gespräch mit dem Jobcenter. »Wenn danach Fragen aufkommen, dann rufst du mich an«, sagt der Sozialdoktor zum Abschied und drückt der Frau seine Visitenkarte in die Hand.
Ein knappes Dutzend Leute berät Dr. Hartz durchschnittlich während eines Abends im SO 36. Seit Anfang dieses Jahres erhält er Rente, sein Ein-Mann-Unternehmen hat er zum Verein umgewandelt. Aber er macht weiter, um den Arbeitslosen zu helfen. Die ungewöhnliche Arbeitszeit macht ihm nichts aus, das sei »wesentlich angenehmer als früh morgens«, sagt er. Anstrengend findet er vor allem den Lärm.
Für den ist »DJ Mutti« verantwortlich. Der Mann mit kurzem, schwarzem Haar legt heute die Musik auf. In seinem Aluminiumkoffer hat er seine eigenen CDs mitgebracht. Für ihn ganz wichtig: Die Musik muss »mit der Seele gemacht« sein. Er selbst steht aus »Begeisterung am Plattenauflegen« hinter dem Mischpult, sagt er. Den Klub kennt er seit über 30 Jahren, vor zwei Jahren hat er angefangen, bei den Flohmärkten für die Musik zu sorgen. »Die Leute von den Ständen sind immer die selben.« Viele wohnten in der Nachbarschaft. Und alle kennen ihn nur als »Mutti«. Woher der Name kommt? »Der Betreuungsfaktor spielt eine Rolle«, meint er.
Ein Privileg besitzt »Mutti«: »Es ist mir erlaubt, zu rauchen.« Er zündet sich eine Zigarre an, zieht daran. »Aber nur hier.« An der Anlage. Als Dank für die Musik. Jenny ärgert das trotzdem. »Das kann er mal sein lassen, das Rauchen«, sagt die Verkäuferin, die ihren Stand nur fünf Meter entfernt aufgebaut hat. Früher, als alle qualmen durften, sei es noch schlimmer gewesen. Jenny ist Stammgast. Sie war bei fast jedem der bisher 75 Nachtflohmärkte.
Dabei entspricht ihr Aussehen überhaupt nicht dem Klischee von einer Besucherin eines linken Szene-Klubs. Sie trägt pinke Kleidung, Lippenstift und Ohrringe mit Bildern von Marilyn Monroe. Und was sie sagt, ist auch nicht immer politisch korrekt. Dass sie hier Klamotten verkaufe, liege daran, »dass ich meine Schränke nicht zugekriegt habe – wie Frauen so sind«. Nun wird sie zwar ihre Kleidung los, verdient aber kaum Geld daran. Am Abend nimmt sie etwa 40 Euro ein, schätzt sie. »Reich wird hier keiner.«
Das gilt auch für das SO 36. Der Nachtflohmarkt sei ein Verlustgeschäft, sagt Veranstalterin Lilo. Ein Stand kostet zehn Euro, maximal 30 Tische passen in den Partyraum. Heute stehen 24 Verkäufer auf der Liste. Von dem Geld muss hinterher die Musik und die Sozialberatung von Dr. Hartz bezahlt werden. Trotzdem: Der Flohmarkt sei wichtig, gerade für die Nachbarn im Kiez, sagt Lilo.
Das »nd« bleibt gefährdet
Mit deiner Hilfe hat sich das »nd« zukunftsfähig aufgestellt. Dafür sagen wir danke. Und trotzdem haben wir schlechte Nachrichten. In Zeiten wie diesen bleibt eine linke Zeitung wie unsere gefährdet. Auch wenn die wirtschaftliche Entwicklung nach oben zeigt, besteht eine niedrige, sechsstellige Lücke zum Jahresende. Dein Beitrag ermöglicht uns zu recherchieren, zu schreiben und zu publizieren. Zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!
Mit deiner Unterstützung können wir weiterhin:
→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.
Sei Teil der solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.